Karl Nolle, MdL

Die Welt, 17.06.2007

Rot-Rot ist nur noch eine Frage der Zeit

Oskar Lafontaine ist zurück. Als Co-Vorsitzender der neuen Linken heizt er seinen früheren Genossen von der SPD ein
 
Oskar Lafontaine ist zurück. Als Co-Vorsitzender der neuen Linken heizt er seinen früheren Genossen von der SPD ein. Offiziell zieren sich die Sozialdemokraten noch. Doch längst geht es nicht mehr darum, ob – sondern wann sie im Bund zusammen arbeiten.

Nein, nein, sagt Karl Lauterbach, es gehe ihm nicht um Koalitionen. Nicht um politische Bündnisse, noch nicht einmal um Parteien. Es gehe ihm um den Befund. Lauterbach, 43, ist SPD-Bundestagsabgeordneter, Gesundheitsexperte, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität Köln – und Freigeist. In seiner Fraktion nennen das manche „Querkopf“. Und andere „Irrläufer“. Das muss aber nicht viel bedeuten. Lauterbachs Befund lautet: Von der Wiege bis zur Bahre herrscht in Deutschland der Zweiklassenstaat.

Die reaktionäre Linke kommt aus dem Westen Aus diesem Befund hat der Mediziner ein dickes Buch gemacht. Es verspricht schon jetzt ein Bestseller zu werden. Als er am Donnerstag sein Buch in Berlin vorstellt, zitieren die Agenturen zeitgleich aus einem „Stern“-Interview. Lauterbach sagt darin: „Die Linkspartei kann koalitionsfähig werden.“ Sie teile mit der SPD das „gleiche noble Ziel“: einen gerechten Staat.

In Lauterbachs Buch steht in der Tat nichts über Koalitionen. Es liest sich aber wie eine innenpolitische Analyse, aus der heraus etwas Neues entstehen kann. Es liest sich wie ein Vorzeichen für Rot-Rot, für ein Bündnis aus SPD und der neuen Linken. Im Bund wohlgemerkt. Gestern schlossen sich die Linkspartei und die WASG zur Partei Die Linke zusammen, eine Fusion aus ostdeutschen SED-PDS-Nachfolgern und westdeutschen SPD-Abtrünnigen. Ihr Gründungsparteitag in Berlin markiert eine historische Zäsur in der deutschen Parteiengeschichte: Das 25 Jahre alte Vierparteiensystem westdeutscher Prägung – Union, SPD, FDP, Grüne – ist zu Ende. Die Linke ist da.

Mit der Partei betritt ein fünfter politischer Akteur die Politbühne Deutschland. Die alte Vorgängerin PDS war noch auf den Ostteil beschränkt, die neue „Linke“ wird die ganze Breite bespielen können. Die Wahl zur Bürgerschaft in Bremen hat das bereits gezeigt. Die nächsten Wahlen in Niedersachsen, Hessen und Hamburg werden dies laut Umfragen belegen. Der Damm könnte dann noch vor der Bundestagswahl im Herbst 2009 brechen: Denn kurz zuvor wählen die Saarländer: Im Stammland Oskar Lafontaines könnte es zur ersten rot-roten Regierung im Westen kommen. Ein Vorbote für den Bund. Die Deutschen müssen sich von der gewohnten Farbenlehre verabschieden. Klassische Koalitionen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün werden seltener. Die Not der schrumpfenden Volksparteien wird drängender. Um ungeliebte große Koalitionen zu vermeiden, werden SPD wie Union vermehrt Dreiparteienbündnisse eingehen müssen. Für die Union kommt nur eine Variante infrage: die Koalition mit FDP und Grünen (Schwarze Ampel, Schwampel oder Jamaika-Koalition). Die SPD kann unter zwei Möglichkeiten wählen: Rot-Gelb-Grün (Ampel) oder Rot-Rot-Grün. Sollte es dem frisch gewählten Co-Chef der Linken, Oskar Lafontaine, tatsächlich gelingen, seine Partei bundesweit als drittgrößte Partei zu etablieren, kommt Rot-Rot im Idealfall auch ohne Grün aus. In den Mitgliederzahlen und aktuellen Wahlumfragen liegt die „Linke“ bereits auf dem dritten Platz. Doch ob nun mit oder ohne Grüne: Die Frage für die SPD ist nicht, ob Rot-Rot eine realistische Option für den Bund wird – sondern wann die SPD ihren Widerstand dagegen aufgibt. So wie sie einst auch den Widerstand gegen ein Bündnis mit den Grünen aufgegeben hat. Die Geschichte wird sich wiederholen – nur anders koloriert.

Spaltung in der SPD

Derzeit stehen sich in der SPD zwei Lager gegenüber: einmal das mächtige der Partei-, Regierungs- und Fraktionsspitze um Kurt Beck, Franz Müntefering und Peter Struck. Sie alle schließen ein Bündnis mit der Linken kategorisch aus. Als Gründe hierfür nennen die Neinsager zuerst nüchtern die Außenpolitik – und rufen dann wütend ein „Lafontaine“ hinterher. Ihnen gegenüber steht das Lager der traditionsseligen Sozialdemokraten, der Bauch der Partei. Denen ging schon die Agenda 2010 gegen den SPD-Strich, als Gerhard Schröder sie im Frühjahr 2003 als Kanzler und Parteichef ausrief. Jetzt haben sie endgültig genug. Genug vom Vorwurf des Verrats. Genug vom Mitgliederschwund. Genug von der Frage, was noch sozialdemokratisch sei an der SPD. Genug vom Gerede über den Verlust ihres Markenkerns, der sozialen Gerechtigkeit. Genug von einer Großen Koalition, in der die CDU-Kanzlerin Angela Merkel in immer fernere Umfragehöhen entschwebt und die SPD in immer tiefere Selbstzweifel abstürzt. Genug von Rente mit 67, von Hartz IV, der Agenda 2010. Genug von dieser ganzen auf modern lackierten SPD. Sie wollen nichts mehr hören von den Zwängen der Globalisierung, kippenden Bevölkerungspyramiden, von dynamischen Schwellenländern, Nullrunden in der Rentenanpassung. Sie wollen wieder echte Sozialdemokraten sein.

Sozialdemokraten wie in den 70er-Jahren. Sozialdemokraten wie in der Linkspartei. Das Credo der Traditionalisten lautet nicht „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, sondern „Ich will so werden, wie ich war“. Das erste Lager hat zwar das Sagen in der Partei, das zweite aber drei mächtige Verbündete: die eigene Parteibasis, den Faktor Zeit – und die explosive Verbindung, die beide miteinander eingehen. Je länger die Große Koalition dauert, desto stärker wächst der Überdruss in der SPD an ihr – und desto lauter wird der Ruf nach Rot-Rot. Die ersten Prominenten testen bereits ihre Stimmbänder: Neben dem Zweiklassenkämpfer Lauterbach haben auch Juso-Chef Björn Böhning sowie der Altlinke Ottmar Schreiner eine Koalition mit der Linken im Bund für möglich erklärt. Vielleicht noch nicht bei der nächsten Bundestagswahl 2009 – aber warum nicht danach? Ein tieferer Blick in den Bauch der SPD beweist, wie selbstverständlich ein rot-rotes Bündnis für die meisten Parteimitglieder wäre.

In Form einer Mitgliederbefragung hat die SPD-Spitze einen solchen Blick unlängst selbst gewagt – und verbarg anschließend ihr Erschrecken hinter Wortgeklingel wie „aufschlussreich“, „interessant“ und „Diskussionsbedarf“. Das Erschrecken liegt in der Erkenntnis, dass der sozialdemokratische Genosse heimlich das denkt, was der Linken-Genosse offen ausspricht: Leistung ist nicht so wichtig, der Staat hat mich gegen alle Lebensrisiken abzusichern, Auslandseinsätze der Bundeswehr mag ich nicht. Für die SPD-Basis bleibt, so ein Kernergebnis der Umfrage, die soziale Gerechtigkeit das zentrale Anliegen der Partei. 94 Prozent der Mitglieder bezeichneten dieses Thema für sie als „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Anderes fällt dagegen deutlich ab. Die Freiheit zum Beispiel. Nur 66 Prozent halten sie für „sehr wichtig“. Noch schlechter ist es um die Leistung bestellt. Für mehr als die Hälfte (52 Prozent) ist sie von nachrangiger Bedeutung. Auch nicht schön für die Parteispitze ist es, dass so viele Genossen mit dem Kernpunkt des SPD-Programmentwurfs – er soll im September verabschiedet werden – so wenig anfangen können. Der „vorsorgende Sozialstaat“ erreicht in der Rangliste der neun Ziele des Programms bei der Umfrage unter den SPD-Mitglieder Rang neun.

Sehnsucht nach Frieden

Der Vorsorge zieht der Genosse die „friedliche, freie und gerechte Weltordnung“ vor – sie belegte Platz eins. Für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt haben alle zu sorgen – nur nicht die Deutschen. Gerade mal 24 Prozent der SPD-Mitglieder stimmen Auslandseinsätzen der Bundeswehr unter UN-Mandat uneingeschränkt zu. Ein Wert, der ebenso auf Linken-Niveau pendelt wie der zum Mindestlohn. 85 Prozent der Sozialdemokraten befürworten eine flächendeckende Einführung per Gesetz – und 78 Prozent den Ausstieg aus der Atomenergie. Fazit der Befragung: Erstens: Sozialdemokraten wie Linke sehnen sich nach dem Gleichen – Gerechtigkeit und Sicherheit in einer immer unübersichtlicher, immer unsicherer werdenden Welt. Und zweitens: Rot-Rot wächst von unten, als strukturkonservative Graswurzelbewegung im linken Gewand. Die Ziele der 70er-Jahre, so gaukelt sich diese Bewegung selbst vor, waren damals berechtigt, und sie sind auch heute noch erreichbar. Wer das ablehnt, ist ein Verräter der linken Sache, ein Büttel des Kapitals, ein zeitgeistig Verwirrter. Die bilderstürmerische Linke von früher hätte solchen Verweigerern einer besseren, da linkeren Welt ein kühnes „Faschisten“ an den Kopf geworfen. Bei der strukturkonservativen Linken heißt das Schimpfwort „Neoliberale“. So ist das halt, wenn Utopisten graue Haare bekommen. Und wenn Oskar Lafontaine neue Knechte um sich schart. Die Außenpolitik und Lafontaine – diese Kombination wird selbst von den Rot-Rot-Anhängern innerhalb der SPD genannt, wenn sie gefragt werden, was denn einem Linksbündnis im Bund im Wege stünde. Wobei stets klar ist, dass nicht wirklich die Außenpolitik die Hürde ist, sondern Lafontaine.

Mit der Außenpolitik wird es die Linke im Bund wohl halten, wie es die PDS einst mit der Finanzpolitik in Berlin gehalten hat: Vor der Wahl entschieden das eine sagen – und nach der Wahl genauso entschieden das Gegenteil machen. Der Linken-Politiker Stefan Liebich hat den Ton des Wandels schon mal angeschlagen – und UN-Missionen mit Bundeswehrbeteiligung nicht von vornherein ausgeschlossen. Bleibt also Lafontaine, der fahnenflüchtige SPD-Vorsitzende, der neue Links-Chef, der Mann, der Müntefering ein „Großmaul“ nennt, und Bush und Blair „Terroristen“, der Demagoge, der den politischen Generalstreik ausrufen will, der so wirkungsmächtig mit Worten und Zahlen um sich wirft, bis beides die Wirklichkeit zu seiner eigenen zurechtgebogen hat. Bleibt also Oskar. Solange Lafontaine bei der Links-Partei das Sagen hat, wird es keine rot-rote Koalition geben. Der menschliche Faktor an der Spitze wiegt da schwerer als der Wunsch der Basis. Fragt sich nur, wie lange Lafontaine das Sagen haben wird. 2009 wird er 65 Jahre alt sein. Wenn er es ernst meint, wenn er glaubwürdig bleiben will mit seinem Radikalwiderstand gegen die Rente mit 67, dann wartet auf Lafontaine nach der nächsten Bundestagswahl nur eins: der Ruhestand.