Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND, 19.06.2007

"Willy Brandt rotiert schon seit Jahren"

Karl Nolle (SPD) über Mindestlohn, Lafontaine und zwei sozialdemokratische Parteien
 
Karl Nolle, Vorstandsmitglied der SPD Sachsen, ist Sproß einer ur-sozialdemokratischen Familie. Der 1945 geborene Dresdner Druckereibesitzer ging mit 18 in die SPD, gründete eine Firma mit Gerhard Schröder, flog aber 1986 wegen Anbandelns mit den Grünen zeitweilig aus der Partei. Seit 1999 sitzt Nolle in Sachsens Landtag, wo die SPD derzeit mit der CDU koaliert. Mit dem »Querkopf« der Regierungspartei sprach ND-Korrespondent Hendrik Lasch

• Gestern beriet die Koalition zum Mindestlohn. Was ist von einer SPD zu erwarten, deren Abgeordnete ihre eigene Kampagne im Bundestag ablehnten?

Die Leute auf der Straße haben kein Verständnis für den parlamentarischen Firlefanz, am Sonntag Unterschriften für den Mindestlohn zu sammeln und wochentags dagegen zu stimmen. Es ist zum Erbarmen, wie viele SPD-Abgeordnete bei der Abstimmung hinausrannten. Herbert Wehner hat solche Charaktere spöttisch »Toilettenrevolutionäre« genannt.

• In Sachsen hat die SPD schon im Wahlkampf 1999 für Mindestlohn geworben. Warum kommt das Thema erst jetzt bei der Parteispitze in Berlin an?

Wir haben im sächsischen Mittelstandsprogramm, das unter meiner Federführung entstand, soziale Mindeststandards gefordert, die gerade im Osten wichtig sind, wo Tarife oft nicht gelten. Wir ernteten viel Unverständnis. Auch unseren damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering suchten wir zu überzeugen, dass Mindestlohn eine zeitgemäße sozialdemokratische Forderung ist. Heraus kam eine entschiedene Enthaltung.

• Statt dessen wurde das Thema an die Konkurrenz von links abgegeben.

Mit Agenda 2010 und Hartz IV hat die SPD den sozialdemokratischen Kurs verlassen und ihre Seele verloren – mit dem Ergebnis, dass Partei und Wählerschaft drastisch dezimiert wurden. Es ist Zeit für einen Kurswechsel. Wir sollten unsere neoliberalen Irrtümer eingestehen und uns entschließen, keine Politik mehr gegen Arbeitslose, Arbeitnehmer und Rentner zu machen: die Rente mit 67, die Hartz-Reformen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer zurücknehmen, dafür etwa eine Millionärssteuer einführen und keine Hilfsdienste für Bushs Kriege leisten.

• Alles Themen, mit denen die SPD von links getrieben wird.

Das wird eine schwere Bewährungsprobe für die SPD. Sie muss zeigen, ob sie über ihren Schatten springen kann oder zunehmend der neuen Linken das Feld überlässt. Was bei der SPD nicht mehr aufgehoben ist, wird es künftig dort sein. In naher Zukunft werden zwei sozialdemokratische Parteien im Wettbewerb stehen; die Frage ist, wer glaubwürdiger agiert. Als prinzipien- und orientierungsloser Mehrheitsbeschaffer der CDU hat die alte Tante SPD keine Zukunft.

• Ihrem Ex-Chef Oskar Lafontaine attestiert die SPD-Parteispitze übermäßigen Populismus.

Viele von denen, die diesen Vorwurf erheben, müssen sich fragen lassen, was sie beim Mannheimer SPD-Parteitag gemacht haben, als Lafontaine Scharping ablöste. Unter stehenden Ovationen derer, die heute Schaum vor dem Mund haben, hat er damals keine andere Politik formuliert als heute. Wir erleben bei der SPD-Spitze die Eifersucht enttäuschter Liebhaber. Wenn es heißt, Willy Brandt drehe sich im Grabe um, sage ich: Er rotiert schon seit dem dramatischen Sozialabbau und den Kriegshilfsdiensten der Bundeswehr, die Schröder und seine Mitläufer zu verantworten haben. Sie haben die SPD auf den Hund gebracht, nicht Lafontaine. Ich sehe bei uns derzeit niemanden, der ihm rhetorisch und inhaltlich das Wasser reichen kann.

• Aber kann ein Kurswechsel die SPD wirklich noch retten?

Der Wähler wird sich dann entscheiden können, welche Partei die konsequentere und glaubwürdigere ist. Es spricht einiges dafür, dass das Original besser ist als die Kopie. Daran will ich arbeiten. Wenn wir allerdings weitermachen wie bisher, dann arbeiten wir mit Sicherheit am politischen Selbstmord aus Angst vor dem Tode.