Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 17:11 Uhr, 23.06.2007

ZUM ZUSTAND DER SPD: Partei ohne Bilder und Träume

Von Franz Walter
 
Die SPD ist auf dem Weg in die Zukunftsgesellschaft - heute auf ihrem "Zukunftskonvent", aber eigentlich schon seit über 100 Jahren. Doch sie tut sich immer noch schwer mit der politischen Macht - gerade dann, wenn Aufschwung und Optimismus angesagt sind.

Ein bisschen wundert man sich schon. Aber es ist tatsächlich immer noch ist so: Die Sozialdemokraten plagen sich schwer, wie eh und je, mit der politischen Macht. Natürlich, das hat mittlerweile eine unendlich lange Vorgeschichte.

Es begann bereits im 19. Jahrhundert, als die bürgerlichen und feudalen Gegner der Arbeiterbewegung die Sozialdemokraten rigide von der Macht wegstießen. Mit der Zeit gewöhnten sich die Sozialdemokraten schließlich an das nicht unkommode Eckchen ihrer machtfernen Nische. Als ihnen dann 1918 die Regierungsposten nahezu überraschend in den Schoß fielen, wussten sie kaum etwas damit anzufangen. Daran änderte sich auch im Folgenden wenig. Meist waren die oppositionsgewöhnten Genossen froh und erleichtert, wenn sie sich der lästigen Regierungsverantwortung alsbald wieder entledigen konnten, da die eigenen Anhänger sowieso nur notorisch über die Leistungen der SPD-Minister maulten und murrten. Daher zogen sich die Sozialdemokraten lieber eilig in die wärmende Heimstatt ihres Milieus zurück, sangen dort erbauliche Revolutionslieder und rezitierten süßliche sozialistische Poesie.

Zugegeben: Oft geschah dieser Rückzug in die eigenkulturelle Wagenburg keineswegs freiwillig. In den ersten 75 Jahren der SPD-Geschichte war die Flucht in die Nische häufig genug Folge brutaler Verfolgung, denunziatorischer Ächtung und furchtverbreitender Repression. Auch insofern ist das sozialdemokratische Refugium ambivalent zu bewerten. Die autonome Vereins- und Organisationswelt des Sozialismus bot Schutz, Wärme und Heimat; sie spendete Zuversicht, schuf Vertrauen, nährte den Optimismus. Dadurch trotzen die Sozialdemokraten insgesamt 24 Jahre staatlichen Terrors, ohne daran existenzgefährdenden Schaden zu nehmen oder auch nur zahlenmäßig an Anhängern zu verlieren. Zum Ausgang des subkulturellen Überlebens während - als Beispiel genommen - des Sozialistengesetzes (1878-1890) waren die Sozialdemokraten stärker als zuvor. Sie hatten Leid ertragen müssen, aber sie waren in dieser Zeit an Mitgliedern und Wählern gewachsen.

Die SPD weiß das Leiden zu schätzen

Diese historische Lektion prägte nachhaltig. Die Sozialdemokraten lernten das Leiden zu schätzen. Das Leid verschaffte ihnen ein moralisches Überlegenheitsgefühl, auf das sie sich stets dann zurückbesannen, wenn die Zeiten beschwerlich wurden, da die Medien hämisch über sie herfielen, weil Konservative und Liberale sie maliziös attackierten. Dann suchten die bedrängten Sozialdemokraten das oppositionelle Rückzugsgelände, den zusammenschweißenden Affekt gegen die bösartigen Feinde und die selbstgerechte Vergewisserung, trotz aller Rückschläge zumindest moralisch dem bürgerlichen Rest der Gesellschaft turmhoch überlegen zu sein.

Doch war diese sozialdemokratische Kultur eine wirklich defensives Refugium, eine Parallelwelt der Larmoyanz und Ohnmacht. Die Kommandohöhen der Macht jedenfalls hatten andere soziale und politische Kräfte zielstrebig okkupiert. Und so war die Sozialdemokratie bis in die 1960er Jahre ganz überwiegend nicht der treibende Akteur in der deutschen Politik und Gesellschaft, sondern oft genug Objekt und Opfer der Aktionen ihrer ungleich härter und entschlossener agierenden Gegner.

Viel bekam die SPD daher nicht zustande in Deutschland, das bis heute in seinem Sozialsystem weit stärker katholisch-christdemokratisch denn sozialdemokratisch geprägt und strukturiert ist. Im Grunde war den Sozialdemokraten vor der Troika Brandt-Wehner-Bahr kaum einmal exakt klar, was politisch präzise gemacht werden sollte. Zwar fabulierten Sozialdemokraten von Bebel bis Ollenhauer gern von großen Zielen, aber man hat das nie näher ausgeführt oder gar unmissverständlich bestimmt. Es gab keine Bilder, zumindest keine Modelle, keine Baupläne oder Blaupausen von der "Zukunftsgesellschaft", welche die Partei immerhin über 100 Jahre rhetorisch ansteuerte.

Die Blässe des Zukunftsbildes gehörte unzweifelhaft zum fatalen Erbe des parteigeschichtlich zunächst formativen Marxismus, der ja keine utopische Schwärmerei sein mochte, sondern vielmehr strenge Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchte. Und die Zauberformeln, gleichsam die Schlüsselbegriffe dieser vermeintlichen Wissenschaft lauteten: "Entwicklung" und "Notwendigkeit". Keine sonstigen Kategorien haben etliche SPD-Generationen so sehr geprägt wie eben die gewissermaßen hegelianisch dogmatisierten Metaphern: "Entwicklung" und "Notwendigkeit".

Man hat den Sozialdemokraten bis in die Ära Lafontaine gern zum Vorwurf gemacht; sie ließen sich zu sehr von utopischen Vorstellungen treiben. Doch das Gegenteil traf zu. Denn: Die Sozialdemokraten waren durchweg unfähig zu utopischen Phantasien. Ihnen fehlte es gänzlich an Imagination, an kreativen Sinn und Vorstellungskraft für das utopische Bild. Die Bilderarmut, ja das Farblose ist das typische für die lange sozialdemokratische Geschichte soliden, grundständigen Facharbeitertums.

Freiheit ist "Einsicht in die Notwendigkeit"

Wahrscheinlich kommen die gegenwärtigen Sozialdemokraten deswegen so gern auf Franz Müntefering zurück. Münteferings Verhältnis zur Freiheit ist eindeutig: Freiheit ist die "Einsicht in die Notwendigkeit". So hatte es schon der Altmeister des Sozialismus, Friedrich Engels, definiert. Mit der "Einsicht in die Notwendigkeit" ließen sich Sozialdemokraten in ihrer Geschichte regelmäßig in die Subordination zerren. Auch ihre Zustimmung zur Agenda 2010, zur Politik Schröders, begründeten die Sozialdemokraten seinerzeit unter Franz Müntefering mit derartigen Sentenzen.

Man ordnete sich den ökonomische "Zwängen" unter, fügte sich dem Druck der "Globalisierung" - schickte sich aufgrund all dessen in die "Alternativlosigkeit" von Hartz IV und dergleichen mehr. Allein der Zwang vermeintlicher Notwendigkeiten bewegte die sich zunächst sträubenden Sozialdemokraten in die Infanterie des Sanierungskurses der rot-grünen Regierung. Eine normative Neuentscheidung für mehr Individualität, Eigenverantwortung, Selbstinitiative, wovon in jenen Schröder-Jahren ja ebenfalls viel und vollmundig die Rede war, bedeutete das nicht.

Aber eben deshalb stecken die Sozialdemokraten in diesen Monaten in einem Dilemma. Zwischen 2003 und 2005, in der manifesten Krise der Ökonomie, war die Zwangskulisse wirtschaftlicher Notwendigkeiten durchaus wirkungskräftig aufzubauen. Seit dem Frühjahr 2007 aber ist Optimismus, Aufschwung, Wachstum angesagt; die Einnahmesituation des Staats hat sich erheblich verbessert. Nun also verläuft die "objektive Entwicklung" in die andere Richtung; und sozialer Ausgleich müsste eigentlich an die Stelle wirtschaftlicher Austerität treten. Das jedenfalls ist im Prinzip sozialdemokratische Basisphilosophie. Und deswegen tun sich die Fußtruppen der Partei derzeit so schwer mit der mitverantworteten Gouvernementalität der Großen Koalition, die nicht das revidiert, was zuvor an Entscheidungen doch lediglich unter dem Zwang widriger ökonomischer Verhältnisse getroffen werden musste.

Aber illusionär, wie man den Sozialdemokraten häufig vorwarf, ist ihre Haltung, ist diese Erwartung nicht. Im Gegenteil. Es ist der jeweils pure Empirismus, der die Sozialdemokraten treibt und sie oft genug zum Gefangenen einer - dann meist von anderen - dominant gedeuteten "Realität" macht. Illusionen, Träume, Passionen, die utopische Skizze - nichts davon gehört zum mehrheitlichen Ausstattung der deutschen Sozialdemokratie. Natürlich kann Politik Überschüssigkeiten an visionärer Schwarmgeisterei nicht gut vertragen; doch ohne die Schwungkraft der Vorstellung von einer Gegenwelt, ohne das Elixier der Andersmöglichkeit verkümmert Politik zu einer ziemlich trostlosen Administriererei. Denn dann bleibt allein das deprimierende Pathos der Zwänge und Notwendigkeiten. Mehr noch: Dann wäre die SPD, wie sie nun einmal agiert, tatsächlich alternativlos. Aber ist sie das wirklich?