Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 30.06.2007
„Volksverdummung oder Schlamperei“
Einstiger Geheimdienstmitarbeiter Juretzko bezweifelt wirkliche Vernichtung der Verfassungsschutzakten
Leipzig. Die Berichte über Aktenvernichtung hält Norbert Juretzko für Volksverdummung. Der heutige Buchautor („Bedingt dienstbereit“, „Im Visier“) war 15 Jahre Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes.
Frage: Gibt es Parallelen zwischen der Aktenvernichtung bei Bundeswehr und Verfassungsschutz?
Norbert Juretzko: Ich habe im Moment den Eindruck, dass die Geheimdienste auf ein sehr simples Mittel zurückgreifen, um einfach keine Auskunft zu erteilen, wenn es unangenehm wird. Man sagt, Akten seien verschwunden, oder Daten seien gelöscht. Das ist die einfachste Variante.
Die Begründungen klingen dubios, es wäre aus Versehen passiert…
Dieses Niveau ist ein Beleg dafür, wie die Dienste heute mit der Öffentlichkeit und mit der Politik umgehen. Sie scheuen sich nicht, alle für dumm zu verkaufen. Jeder weiß, dass in jeder großen Firma – als solche dürfen Bundeswehr und Verfassungsschutz sicher gelten – in Computersystemen alles doppelt und dreifach gespeichert ist. Selbst wenn eine Datei gelöscht wurde, kann man sie wiederherstellen. Und es schmeißt doch keiner ganze Akten in den Schredder. Bei Nachrichtendiensten gilt das Vier-Augen-Prinzip. Mindestens zwei Leute sind anwesend, wenn etwas vernichtet wird. Also müssen schon mindestens zwei Beamte geschlafen haben. Oder es war absoluter Vorsatz.
Sind die Akten wirklich verloren?
Ich halte es für ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Erkenntnisse einfach weg sind. Komischerweise verschwinden immer die Dinge angeblich, wo Nachrichtendienste eine schlechte Figur machen, über ihre Befugnisse hin- ausgegangen sind.
Haftet ein Innenminister für Fehler des Verfassungsschutzes?
Natürlich. Entweder er haut wirklich dazwischen oder er muss seinen Hut nehmen. Es kann ja nicht sein, dass die Verfassungsschützer machen, was sie wollen. Sie können nicht ein- fach behaupten, dass Akten gelöscht sind, wenn die Medien ihnen bei illegalem Treiben auf die Schliche kommen. Es ist entweder Volksverdummung, wenn behauptet wird, dass Akten vernichtet wurden. Oder es ist Schlamperei, wenn tatsächlich etwas weggekommen ist.
Kann es sein, dass es Verfassungsschutzdossiers nur auf Papier gibt?
Nein. Sowas wird doch mit dem Computer geschrieben. Die Autoren behalten eine Kopie für sich selbst, um belegen zu können, was sie wirklich geschrieben haben. Außerdem wird doch nicht ermittelt, um dann die Erkenntnisse zu entsorgen. Dann muss es bei Staatswanwaltschaft und Polizei weitergehen. Ein Dienst sammelt nicht zum Selbstzweck.
Welche Kontrolle, welcher Schutz ist nötig, damit das nicht mehr passiert?
Es muss vor allem für Mitarbeiter, die sehen, dass etwas faul ist, einen neutralen Beschwerdeweg geben, den sie ohne Angst vor persönlichem Nachteil gehen können. Es gibt dieses Beschwerdesystem nicht, wie es auch keine funktionierende Kontrolle gibt. Im Ergebnis gehen Geheimdienstmitarbeiter in ihrer Not in die Illegalität, wenden sich an die Medien. Sie sehen keine andere Möglichkeit, die Dinge ordentlich zu klären. Sie nehmen dabei in Kauf, dass sie sich strafbar machen.
Glauben Sie, dass die Akten über die Korruptions-Affäre in Sachsen auf Hirngespinsten beruhen?
Ach, es setzt sich doch kein Verfassungsschutzmitarbeiter hin und denkt sich vor Langeweile etwas aus. Schon gar nicht eine Geschichte, die ein paar tausend Seiten füllt. In weiten Zügen wird das stimmen, was die Akten sagen. Es gibt einen realen Hintergrund. Zumal unterschiedliche Quellen gleichlautend berichten. Ich würde den Ermittlern dort grundsätzlich Redlichkeit unterstellen. Die haben ordentliche Arbeit geleistet. Interview: Andreas Friedrich