Karl Nolle, MdL

DLF, Interview, 16.08.2007

"Große Sprüche, große Sätze" - SPD-Sozialpolitiker übt heftige Kritik an Hartz-IV-Reform

Dirk Müller (DLF) im Interview mit SPD-Politiker Rudolf Dreßler
 
Die Arbeitsmarktreformen sind nach Einschätzung des SPD-Politikers Rudolf Dreßler gescheitert. Fünf Jahre nach ihrer Einführung sei die Bilanz erschreckend, sagte Dreßler. Der von der damaligen Bundesregierung angekündigte Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt sei ausgeblieben. Zudem kritisierte der SPD-Politiker, dass die Koalition nichts tue, um die Armut besonders bei den Kindern von Hartz-IV-Empfängern zu bekämpfen.

Dirk Müller: Es steht inzwischen fast schon Pate für den deutschen Sozialstaat jüngster Prägung: Hartz IV. Das Arbeitslosengeld II, das vor fünf Jahren von der Hartz-Kommission aus der Taufe gehoben und anschließend von der Schröder-Regierung umgesetzt worden ist. 347 Euro im Monat. Seit dem 16. August 2002 ist Hartz IV äußerst umstritten. Es hat Massenproteste dagegen gegeben. Die SPD hat Wähler und Mitglieder und die Regierungsmehrheit verloren. Es hat wohl auch den Aufstieg der Links-Partei erst möglich gemacht.


Bei uns am Telefon begrüße ich nun den SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler. Guten Morgen!

Rudolf Dreßler: Guten Morgen!

Müller: Herr Dreßler, hat Hartz IV Deutschland verändert?

Dreßler: Hartz IV hat Deutschland verändert, und zwar negativ. Die Ankündigungen der damaligen Regierung, große Sprüche, große Sätze. Ich erinnere an den Satz des Bundeskanzlers, die wichtigste und umfassendste Reform, oder an den Satz des damaligen Arbeitsministers Clement, Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt. Die haben sich nicht erfüllt. Der "Spiegel" hat das mal in die Formulierung gebracht "milliardenschwerer Murks, Abzockerei in Millionenhöhe und Nullwirkung am Arbeitsmarkt". Das ist eine erschreckende Bilanz, die dieses Gesetz heute zeigt.

Müller: Sie sehen nichts Positives?

Dreßler: Das was angedacht war, die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld, wenn auch auf einem anderen Niveau als es damals passiert ist, wäre ein guter Ansatz gewesen, aber wenn man die Ergebnisse heute sieht, dann muss man sagen, dass fünf Grundirrtümer der Konstruktion des Gesetzes zu Grunde gelegt worden sind. Das Fördern, was man wollte, der Arbeitslosen ist nicht eingetreten. Das Fordern an diejenigen, die gar keine Arbeit aufnehmen wollen, also unattraktive Arbeit sich weigern anzunehmen, ist nicht durchgesetzt worden. Der Irrtum drei war, viele Arbeitslose wollen gar nicht arbeiten, glaubte die Regierung. In Wahrheit sind die 1-Euro-Jobs ein Milliardengrab geworden. Und man hat an den vierten Irrtum geglaubt, der Staat würde Geld sparen. Es ist teuerer geworden, als man sich das vorgestellt hat, und zwar wesentlich teuerer. Der fünfte Irrtum war, dass man glaubte, die Regionen, einzelne Regionen würden verelenden. Das ist auch nicht eingetreten, weil der Irrtum mit den arbeitslosen 1-Euro-Jobs sich logischerweise quantitativ nicht eingestellt hat, sondern das Gegenteil der Fall war. Bis heute hat man eben nicht den Mut gehabt, nicht die Kraft gefunden, Korrekturen anzubringen.

Müller: Hat Hartz IV zur Verelendung geführt?

Dreßler: Bei Einzelnen mit Sicherheit. Wenn Sie sich die Statistiken ansehen oder den Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung, dann werden erschreckende Zahlen deutlich. Zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren lebten Ende 2006 in Hartz-IV-Haushalten. Oder wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass 6,80 Euro am Tag für Essen, Kleidung, Schulbücher, Klassenausflüge, Geschenk zum Kindergeburtstag oder mal für einen Besuch im Zoo für Kinder kalkuliert werden und dass bei dieser Kalkulation ein Betrag von 2,57 Euro pro Tag für Ernährung und Getränke ausgegeben werden kann, wobei das Essen in der Schule schon 2,50 Euro bis 3,50 Euro kostet und deshalb arme Kinder an diesem Schulessen überhaupt nicht mehr teilnehmen können, dann ist das doch erschreckend.

Müller: Viele Wirtschaftspolitiker, Herr Dreßler, sagen dagegen, wir haben die Arbeitslosigkeit deutlich gesenkt, auch wegen Hartz IV.

Dreßler: Die Arbeitslosigkeit, die gesenkt worden ist, die hat aber nicht zu diesem Ergebnis geführt, dass Armut überwunden werden sollte. Der Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt ist nicht geschehen und es ist auch nicht die umfassendste Reform gewesen. Wenn wir heute vergegenwärtigen, dass zwei Millionen Kinder in Deutschland in diesen Milieus leben, das heißt von Armut betroffen sind, wenn wir registrieren, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers, immerhin CDU und nicht SPD, obwohl die CDU dieses Gesetz mitbestimmt hat, bereits öffentlich in Briefen darüber klagt und diese Erkenntnis weitergibt, dass Eltern offenbar darauf verzichten, ihre Kinder in einer Ganztagsschule anzumelden, weil sie die Kosten für das Mittagessen scheuen, sprich nicht mehr bezahlen können, dann ist Handlungsbedarf für die Politik gegeben und genau dieser Handlungsbedarf wird von Berlin, von der Großen Koalition nicht wahrgenommen.

Müller: Suchen wir nach dem Schuldigen. Ist die SPD Schuld?

Dreßler: Sie hat mit den Grünen zusammen einen kapitalen Irrtum hingelegt und sie ist nicht offensichtlich bereit, diesen Irrtum in einer Großen Koalition zur Sprache zu bringen, auf die Tagesordnung zu setzen und die Irrtümer, die sie dort eingeführt hat, zu korrigieren. Nicht einmal der Versuch wird gemacht und die CDU ihrerseits tut ebenfalls nichts. Wenn ein solcher Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung solche erschreckenden Erkenntnisse bringt, dann ist eine Regierung auch verpflichtet, im Parlament Initiativen zu ergreifen. Von der Opposition hört man übrigens in diesem Zusammenhang auch nichts: keine Gesetzentwürfe, keine Alternativen.

Müller: Hat damit die SPD auch an sozialer Kompetenz verloren?

Dreßler: Aber mit Sicherheit! Wenn Sie sich die Umfrageergebnisse für die SPD ansehen, dann ist vom Charakter einer Volkspartei nicht mehr viel zu sehen. Mit 24, 25, 26 Prozent hat sie diesen Anspruch verwirkt und das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass sie solche Fehler nicht korrigiert, nicht auf die Tagesordnung setzt.

Müller: Warum haben die Genossen das mitgemacht?

Dreßler: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Das war einer meiner kapitalsten Irrtümer, dass ich immer geglaubt habe, eine solch große Volkspartei mit einer solchen Vergangenheit und einem solchen Bewusstsein wird das niemals mitmachen. Aber sie hat es mitgemacht und ich stehe ziemlich rätselhaft davor. Ich habe keine Erklärung dafür.

Müller: Sie sind Mitglied der SPD. Wie lange noch?

Dreßler: Diese Frage, die habe ich mir insoweit gestellt, als ich mich nach den Gründen heute frage, wenn man so etwas sieht, womit man seine Mitgliedschaft noch begründet. Ich bin dann zu dem Ergebnis gekommen: Wahrscheinlich ist es zurzeit Nostalgie. Und ich gebe natürlich die Hoffnung nicht auf, dass sich immer noch Leute finden, die dieses auch wieder auf die Tagesordnung bringen, das heißt die Richtung der SPD versuchen wieder zu verändern in eine identitätstiftende Sozialpolitik.

Müller: Also man könnte das so formulieren - ich versuche das zumindest -, dass Ihnen bei Hartz IV zumindest Oskar Lafontaine näher steht als Kurt Beck?

Dreßler: Aber mit Sicherheit! Das ist so und das war damals schon so. Ich habe nicht verstanden, wie man solche Gesetze machen konnte, und ich stehe heute vor den Ergebnissen ziemlich ratlos und verstehe nicht, warum die SPD es nicht aufgreift. Und wenn dann eine Partei von Oskar Lafontaine, die Linke dieses tut, dann muss sich die SPD mit den Ergebnissen ihrer Arbeit auseinandersetzen. Dieses scheut sie ja ebenfalls. Sie tut es nicht. Wenn ich mir vergegenwärtige, dass der Sozialminister jetzt eine Hartz-IV-Anpassung an die Einführung von Mindestlöhnen per Gesetz geknüpft hat, wissend, dass die CDU/CSU strikt dagegen ist, dann ist das ja kein identitätstiftendes Ziel. Jeder weiß, dass er nur Punkte machen will für Landtagswahlkämpfe, aber keinen Erfolg haben wird. Anstatt sich nun einer Erhöhung in dieser Hinsicht zu widmen, verknüpft er es mit einer nicht einlösbaren Forderung, wissend, dass damit seine eigene Forderung obsolet ist. Das ist auch nicht glaubwürdig.

Müller: Nun hat, Herr Dreßler, die Links-Partei Sie eingeladen einzutreten. Werden Sie das tun?

Dreßler: Ich habe noch kein Eintrittsformular auf dem Schreibtisch und auch kein Austrittsformular auf dem Schreibtisch, aber der Prozess ist, wenn Sie so wollen, im Gange. Helmut Schmidt hat mir mal gesagt, man muss dafür sorgen, dass 50 Prozent immer stimmen. Der Rest ist wie in einer Ehe Floating. Ich schrabbe zurzeit an der 50-Prozent-Marke.

Müller: Der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler war das. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

Dreßler: Auf Wiederhören!