Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 12.09.2007

Ein sozial rückständiges Land

Ein neues linkes Leitbild für die Arbeitnehmer muss sich den globalen Marktmechanismen entgegenstemmen – und politisch mitgestalten.
 
Die Erkenntnis wächst: Die hohe Massenarbeitslosigkeit, ungleiche Bildungschancen und die auseinander driftende Schere zwischen Arm und Reich sind nicht das Ergebnis des Fehlverhaltens Millionen Betroffener, sondern systembedingt. Ein neues linkes Leitbild der Arbeitnehmerschaft hat daher zuerst die Aufgabe, aus der überkommenen Logik auszubrechen, nach der sich die Gesellschaft den globalisierten Marktmechanismen lediglich anzupassen hat und die Politik dabei nahezu jeden Gestaltungsspielraum verliert.

Es geht darum, die Definitionsmacht bei den Themen Menschenwürde, Arbeit, Frieden und Demokratie wieder zurückzuerlangen und Begriffen wie Solidarität und Gerechtigkeit neuen Sinn zu geben.

Dazu ein Beispiel: Ein Wachmann, der für fünf Euro Stundenlohn arbeitet und ergänzende Hartz-IV-Leistungen beantragen muss, um die Familie über die Runden zu bringen, wird von vielen gesellschaftlichen Ansprüchen ausgegrenzt. Das Unternehmen, dessen Gelände er bewacht, profitiert dagegen von subventionierten Löhnen trotz glänzender Gewinne. Fachleute sprechen von rund sieben Millionen prekären Arbeitsverhältnissen, deren Einkommen nicht mehr ausreichen, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, während Gewinne, Managergehälter und Vermögenseinkommen in immer neue Höhen steigen.

Es ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig, dass diese Menschen als Arbeitnehmer zweiter Klasse in den Betrieben behandelt werden. Es ist bezeichnend für den gesellschaftlich rückständigen Status der Bundesrepublik, dass wir eines der letzten europäischen Länder ohne Mindestlohn sind und die Gewerkschaften um die Festsetzung von 7,50 Euro Mindestlohn erbittert ringen müssen.

Sachsen ist kein Vorbild

Dass es einer CDU geführten Landesregierung möglich ist – wie im Falle der Landesbank Sachsen –, Volksvermögen unter Ausschluss der öffentlichen Kontrolle zu verschleudern, Arbeitnehmern Mindestlöhne zu verweigern und Lohndumping mit Unterstützung von sogenannten Christlichen Gewerkschaften hoffähig zu machen, sei nur am Rande bemerkt.

Für die Linke darf es in Zukunft nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit gehen. In den Mittelpunkt rücken Themen wie die Wertigkeit von Facharbeit, Bildungschancen insbesondere für Jugendliche und Fragen sozialer Innovation in den Betrieben. Erwerbsarbeit an sich muss eine neue Wertschätzung erhalten. Es geht um den Ausbau der Mitbestimmung anstelle eines Betriebsgefolgsschaftsdienstes, um wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Die Humanisierung der Arbeitswelt durch intelligente Formen der Arbeitszeitverkürzung bleibt ein wesentlicher Teil eines linken Zukunftsansatzes. Ebenso muss die Erkenntnis Berücksichtigung finden, dass sich starre Erwerbsbiografien auflösen, soziale Milieus erodieren und alternative Lebensentwürfe akzeptiert werden. Eine Offensive bei der Gestaltung familienfreundlicher Arbeitszeiten ist notwendig.

Sozialstaat weiterentwickeln

Das birgt sozialen Sprengstoff, da sie die Bedürfnisse der jüngeren Generation bei der Lebensplanung aufgreift und in Konflikt gerät mit den Flexibilisierungsinteressen der Unternehmen. Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die Realisierung einer umweltfreundlichen Produktion und die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen können zum zentralen Projekt der Linken in global vernetzten Bündnissen werden.

Im Mittelpunkt eines linken Projektes steht auch die Weiterentwicklung des Sozialstaates. Eine solidarische Bürgerversicherung dient dabei nicht nur der langfristigen Sicherung von notwendigen Gesundheitsleistungen für alle, sondern sichert menschenwürdige Existenz von Schwächeren in der Gesellschaft. Die gewerkschaftliche Linke kämpft für mehr Selbst- und gegen Fremdbestimmung.

Den Gewerkschaften und der Linken bieten sich dabei neue Chancen, wenn sie nicht stellvertretend für, sondern mit den abhängig Beschäftigten für bessere Arbeit- uns Lebensbedingungen eintreten und ihre Strukturen entsprechend verändern.

Ehrenamt mehr würdigen

Auch die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, überhaupt die Würdigung der ehrenamtlichen Arbeit, kann durch Aufbau genossenschaftlicher Strukturen im Sinne der Organisation zur Selbsthilfe, gerade im Osten der Republik zur Neuformierung der Linken beitragen.

Das ist wichtig in Zeiten, in denen die Konservativen sich anschicken, die besseren Sozialdemokraten zu geben und die Sozialdemokratie noch damit beschäftigt ist, Hartz IV in das Projekt des vorsorgenden Sozialstaates einzukleiden.

Es bleiben Zweifel, ob das Problem durch neue Namen und Parteien allein gelöst werden kann. Auch heute noch gilt die alte dialektische Erkenntnis, dass die Idee erst dann zur materiellen Gewalt wird, wenn sie gesellschaftspolitische Relevanz erreicht. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Reduzierung des Menschen auf den Kostenfaktor und die Schikane gegen sozial Schwache stößt zunehmend auf den Widerstand breiter Bevölkerungsschichten.
Von Oliver Höbel