Karl Nolle, MdL
SPIEGEL 39/2007, Seite 32, 23.09.2007
Buchhalter im Blindflug
Viele Geldinstitute haben sich im Zuge der grassierenden Finanzmarktkrise verhoben. Doch wie sollen sie die Risiken nun bewerten? Selbst Wirtschaftsprüfer sind ratlos.
Seit die US-Immobilienkrise vor wenigen Monaten ausbrach, sind Börsianer Stimmungsschwankungen unterworfen, die Achterbahnfahrten nicht unähnlich sind. Mal meldet eine Bank, unter dem Druck fauler Immobilienkredite zusammenzubrechen. Dann drückt eine mächtige Notenbank beruhigend billiges Geld in den Markt. Vergangene Woche ging's für Bankaktien erneut erst heftig auf- und dann wieder abwärts.
Kaum hatte die US-Notenbank kraftvoll die Leitzinsen gesenkt und damit für neue Kauflaune gesorgt, ließ Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann das Parkett beben. Zur besten Sendezeit outete der Schweizer das größte Finanzinstitut der Republik als fehlbar: "Auch die Deutsche Bank hat Fehler gemacht, auch in dieser Krise", räumte Ackermann in der ZDF-Talkshow von Maybrit Illner ein. In der Markteuphorie Anfang des Jahres sei man übertriebene Kreditengagements für Firmenübernahmen eingegangen, die sich jetzt nicht weiterverkaufen ließen. Das Echo auf so viel Offenheit fiel erschütternd aus.
Im Fall der Deutschen Bank geht es um rund 29 Milliarden Euro. Das Geld ist nicht wirklich weg, aber auch nicht wirklich da. Die Werte schlummern in zurzeit kaum verkäuflichen Kreditpaketen. Die Neubewertung "belastet unsere Erfolgsrechnung im dritten Quartal", verkündete Ackermann - und sprach damit ebenso für seine bislang abgetauchten Konkurrenten wie HypoVereinsbank oder Dresdner Bank, aber auch viele andere Institute.
Selbst ein zuletzt erfolgsverwöhnter Topmanager wie Ackermann weiß schlicht nicht, wie groß die Lasten in seinen Tresoren wirklich sind. Ackermann am Freitag zum SPIEGEL: "Die Reaktion der Börse zeigt, wie groß die Nervosität über die Auswirkungen der Krise auf die Erfolgsrechnung der Finanzinstitute ist. Deshalb fordere ich schon seit einiger Zeit größtmögliche Transparenz und eine richtige Bewertung der Positionen, damit diese Unsicherheit von den Märkten genommen wird." Nur wie?
Seit die Ausfälle bei amerikanischen Ramschhypotheken die Finanzmärkte erschüttern, ist in den Bilanzen nichts mehr so wie früher. Zu heftig waren die Turbulenzen.
Notenbanken pumpten in den vergangenen Wochen etliche hundert Milliarden Euro in die Geldmärkte. Die Sachsen LB und die IKB Deutsche Industriebank konnten nur dank milliardenschwerer Stützungsmaßnahmen am Leben gehalten werden. In Großbritannien standen panische Kunden Schlange vor den Filialen der angeschlagenen Hypothekenbank Northern Rock und wollten ihre Konten räumen.
Gigantische Vermögen wurden vernichtet. Selbst die Buchhalter verlieren dabei die Orientierung. Denn wo es keinen Markt mehr für solche Kreditpakete gibt, gibt es auch keine Preise. "Der Gesamtmarkt für verbriefte Forderungen ist weitestgehend ausgetrocknet. Es gibt einen Käuferstreik und damit keine Preise", sagt Frank Cerveny, Kreditanalyst der DZ Bank.
Wie gefährlich die Altlasten tatsächlich sind, kann niemand abschätzen. Althergebrachte Bewertungsmuster taugen nicht mehr: "Es herrscht Verunsicherung", sagt Klaus-Peter Naumann, Vorstandssprecher des Instituts der Wirtschaftsprüfer und damit so etwas Ähnliches wie der König der deutschen Bilanzexperten. Die Frage, wie die Bewertungsregeln so anzuwenden sind, dass alle erkennbaren Risiken angemessen berücksichtigt werden, "lässt sich derzeit nicht einfach beantworten".
Selbst die Modelle, mit denen Finanzmathematiker fehlende Marktpreise durch Schätzungen ersetzen, funktionieren in der aktuellen Krise nur bedingt. Diese künstlichen Welten gelten schon in normalen Zeiten nur als die zweitbeste Lösung, "weil sie nie die Objektivität eines Börsenkurses besitzen", weiß Naumann. Je nachdem, wie an den Stellschrauben bestimmter Variablen gedreht wird, kommen dann "regelmäßig verschiedene Schätzungen zustande". Bilanzkosmetik heißt das im Volksmund.
Nun übt eine ganze Branche den buchhalterischen Blindflug. Das führt entweder zu einem Ende mit Schrecken (also schmerzhaften Abschreibungen) oder zu einem Schrecken ohne Ende, wenn nämlich "bilanzielle Phantasiewerte in den Abschlüssen fürs dritte Quartal" auftauchen, spottet ein Insider. Das Verhältnis zwischen einer Bank und ihrem Wirtschaftsprüfer sei derzeit vergleichbar "mit einem ausgebufften Teppichhändler, der einen Touristen vor sich hat und ihm erklärt, was der Teppich wert ist".
Wie hektisch es auf diesem Bewertungsbasar zugeht, musste Commerzbank-Chef Klaus-Peter Müller vergangene Woche erleben. Am Dienstag um 12.30 Uhr hatte die Nachrichtenagentur Reuters die Finanzwelt mit einer Meldung geschockt: Statt der offiziell angekündigten Wertberichtigung von 80 Millionen Euro auf sein 1,2 Milliarden Euro schweres Paket von US-Ramschhypotheken könnten es auch "500 Millionen oder sogar 1,2 Milliarden" werden, orakelte die Agentur.
Die Commerzbank-Aktie stürzte prompt ab. Trotz schneller Dementis musste Müllers smarter Kronprinz Martin Blessing kurz darauf Zweifel an den eigenen Zahlen einräumen. "Die Frage, wie die ganzen Themen zu bewerten sind, ist noch offen", sagte er. Müller ergänzte später, "es wäre gut, wenn sich die internationalen Regulatoren zusammensetzen und einheitliche Regeln vorgeben".
Wen Müller, zugleich Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, damit gemeint hat, wissen auch seine engsten Mitarbeiter nicht so recht. Denn weder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) noch eine ausländische Kontrollbehörde sind dafür verantwortlich.
Dennoch sei der Kontakt zwischen Banken, Wirtschaftsprüfern und BaFin "noch nie so intensiv gewesen", sagt der Sprecher einer Großbank. Keiner will später dafür verantwortlich gemacht werden, wegen falscher Bewertungsmethoden viel zu gut oder viel zu schlecht bilanziert zu haben. Proteste wütender Aktionäre möchte niemand riskieren.
Jetzt hoffen alle "auf eine inoffizielle Direktive der BaFin und bauen entsprechend Druck auf", vermutet ein Frankfurter Unternehmensberater. Derweil schweigen die Bankenwächter zu dem Thema eisern. Und im Fall der Deutschen Bank übernimmt dann gleich die Konkurrenz eine erste Schadensprognose: 625 Millionen Euro müsse Ackermann wohl abschreiben, schätzt JP Morgan Chase.
Auch bei der Dresdner Bank schwitzen die Buchhalter. Der Mutterkonzern Allianz besaß Ende Juni insgesamt für 35 Milliarden Euro Wertpapiere, die mit Hypotheken oder anderen Forderungen besichert waren. Wie dieser Berg zu bewerten ist, kann derzeit niemand sagen.
Die USA sind da einen Schritt weiter. Investmentbanken wie Lehman Brothers, Morgan Stanley, Bear Stearns und Goldman Sachs veröffentlichten vergangene Wochen ihre Quartalsberichte. "Da gab es trotz Gesprächen keine Vorgaben der US-Börsenaufsicht", so ein Insider. "Jeder hat das individuell gemacht, das zeigen die extremen Unterschiede in den Resultaten."
Besser dürfte es so schnell nicht werden: Denn die Banken haben in den USA nicht nur mit faulen Immobilienkrediten gehandelt, sondern auch mit Konsumentenkrediten. Wer gerade erst sein Haus verlor, weil er die Raten nicht mehr zahlen konnte, dürfte kaum noch Luft haben, die anbezahlte Waschmaschine oder das neue Auto abzustottern.
Deutsche-Bank-Chef Ackermann übt sich dennoch in Zuversicht: "Ich erwarte, dass die Investoren in den kommenden Monaten zurückkommen und die Märkte sich normalisieren. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen, und wir sehen bereits erste ermunternde Signale in diese Richtung." BEAT BALZLI