Karl Nolle, MdL

Wirtschaft & Markt, Das Ostdeutsche Wirtschaftsmagazin, 10/07, 03.10.2007

Die Hartz Reformen: Viel versprochen, wenig gehalten

Im Sommer 2002 versprachen Peter Hartz und Gerhard Schröder die Arbeitslosenzahl zu halbieren.
 
Im Sommer 2002 versprachen Peter Hartz und Gerhard Schröder die Arbeitslosenzahl zu halbieren. Fünf Jahre später ist davon keine Rede mehr. Stattdessen wird auf dem Arbeitsmarkt weiter gescrabbelt.
Eine Bilanz von Steffen Uhlmann.


Da muss Begeisterung rein, lassen Sie sich alle anstecken«, fordert Peter Hartz das 500-köpfige Auditorium auf, das sich am 16. August 2002 im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt versammelt, um wieder einmal ein »historisches Ereignis« zu feiern. Mit viel Pathos übergibt der Volkswagen-Manager an Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sein Reformpaket für den Arbeitsmarkt. Ein Ruck soll durch das Land gehen und Hoffnung auf den Aufschwung verbreiten.

Die markanteste Botschaft steht auf Seite 35 des gelben Wälzers: Eine flott geschwungene Grafik verdeutlicht den geplanten Abbau der Arbeitslosigkeit. Sie soll sich von vier Millionen (Stand: 16. August 2002, 11.00 Uhr) bis zum 31. Dezember 2005, 24.00 Uhr auf zwei Millionen halbieren. Auf dieses Ziel hat die unter Leitung von Hartz stehende »Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« ihre über 348 Seiten ausgebreiteten Vorschläge ausgerichtet.

Viel Papier und viele Versprechungen. Doch misst man im Sommer 2007 die bald in Kraft getretenen Hartz-Reformen an dieser derart mutigen Vorgabe, die der VW-Vorstand 2002 seinem Duz-freund Schröder mit Verve zum Wahlkampf-Geschenk gemacht hatte, so haben die Hartz-Reformen ihr Ziel total verfehlt. Zum Jahreswechsel 2005/2006 stieg die Zahl der Arbeitslosen erstmals auf über fünf Millionen an. Und auch heute noch, da die Deutschen dank eingesetztem Konjunkturaufschwung wieder mehr zu tun bekommen haben, liegt die Arbeitslosenzahl immer noch 1,7 Millionen höher als damals in Aussicht gestellt wurde.

Aber nicht nur deswegen fand die für 2007 geplante fünfjährige Jubiläumsfeier nicht mehr statt. Gerhard Schröder ist nicht mehr Kanzler der Bundesrepublik. Er verdient sein Geld nun als Lobbyist und Berater. Der Manager selbst musste im Zuge der VW-Affäre um Prostituierte und Lustreisen seinen Hut nehmen und wurde wegen Untreue angeklagt.

Schwerer aber wiegt, dass seine Reformen - von Hartz I bis Hartz IV - nicht nur viel von ihrem Glanz verloren haben, sondern auch ständiger Kritik und Korrekturen unterworfen sind. Viel Wut und Häme blüht dabei bisweilen. Für viele der Betroffenen bedeuten die Hartz-Reformen »Armut per Gesetz«. Und für den Alt-Kabarettisten Dieter Hildebrandt steht fest, dass die Reform Hartz IV heißen müsse, »weil ein Hartz allein gar nicht so viel Unsinn mache kann«.

Keine Frage, gerade das »Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« steht heute im Zentrum der Kritik und muss als Beweis für die kalten und herzlosen Reformen innerhalb der rot-grünen Agenda 2010 herhalten. Dabei besteht das 2003 schrittweise in Kraft getretene Reformpaket noch aus drei weiteren Gesetzen, die bei aller Kritik und nach objektiven Kriterien beurteilt in ihrer Gesamtheit noch immer für einen der wichtigsten Reformschritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt stehen. Das zeigen die Maßnahmen und das zeigt ihre, wenn auch zwiespältige, Bilanz.

DER FLOP VON HARTZ I

Das »Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen« tritt bereits 2003 in Kraft. Mit ihm werden neue Instrumente für die Arbeitsvermittlung eingeführt, darunter Bildungsgutscheine und Personal-Service-Agenturen (PSA) für den Job-Einstieg
über geförderte Zeitarbeit. Ältere Arbeitslose sollen befristete Zuschüsse zum Einkommen erhalten, wenn sie geringer bezahlte Stellen besetzen. Arbeitgebern
wiederum wird ein Beitragsbonus bei den Sozialkassen zugesichert, wenn sie Ältere einstellen.



Gerade von den PSA erwarten Bundesregierung und Reformer hohe Beschäftigungseffekte. Die Agenturen sollen Arbeitslose anstellen und an Firmen verleihen. Man erhofft sich einen »Klebe-Effekt«, der dazu führt, dass die Entleiher die bislang Erwerbslosen über kurz oder lang auf Dauer anstellen. Schon im Februar 2004 gibt es fast 1.000 PSA mit beinahe 33.000 Mitarbeitern. Ihr von der Bundesagentur für Arbeit (BA) getragener Etat beträgt 175 Millionen Euro.

Viel Geld für das Ziel, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen und schon im ersten Jahr nach dem Start 50.000 Arbeitslose in ein dauerhaftes Arbeitverhältnis zu vermitteln. Schrittweise soll sich diese Zahl auf jährlich 350.000 erhöhen. Doch was in der Theorie so gut ausgedacht scheint, funktioniert in der Praxis nicht. Eine im Sommer 2005 vom Wissenschaftszentrum in Berlin (WZB) gezogene erste Zwischenbilanz stellt den Agenturen ein vernichtendes Zeugnis aus. »So wie die Personal-Service-Agenturen bis Mitte 2005 aufgestellt waren, sind sie weder effektiv noch effizient.«

Die Bilanz sei ernüchternd, schreiben die Berliner Sozialforscher. Fast ein Drittel der von ihnen untersuchten PSA hätten eine Verleihquote unter zehn Prozent. Jeder vierte PSA-Teilnehmer habe angegeben, noch verliehen worden zu sein. Das Gros der Klienten hätte trotz Weiterbildung keine Chancen, einen regulären Arbeitsplatz zu erhalten. Im Gegenteil, das PSA-Modell verschlechtere sogar die Chancen der Betroffenen.

In der Folgezeit verschärft sich das Dilemma noch. Während ungeförderte Zeitarbeitsfirmen boomen, weil sie »jedermann« einstellen und verleihen können, geraten die bezuschussten Personalagenturen mehr und mehr unter Druck. Ein Teil von ihnen muss Insolvenz anmelden, andere werden, kaum gegründet, wieder geschlossen. Noch 2005 wird daraufhin die Verpflichtung, in jedem Bezirk einer Arbeitsagentur eine PSA einzurichten, revidiert. Derzeit gibt es noch reichlich 400 Agenturen mit 5.500 Mitarbeitern, deren Zukunft ungewiss bleibt. Raimund Becker, BA-Vorstandsmitglied. urteilt im Rückblick: »Die PSA waren ein großer Flop.«

HARTZ WUNDERWAFFE ICH-AG

Das zweite Gesetz wird ebenfalls noch 2003 verabschiedet. Mit ihm kommen weitere Förderinstrumente hinzu. Das Scheinselbständigkeitsgesetz wird aufgehoben und die steuer- und abgabenbegünstigten Minijobs bis 400 Euro Monatslohn werden vereinfacht. Für Löhne von 400 Euro bis 800 Euro kommen die Minijobs mit gleitend steigenden Abgabenbelastungen hinzu.

Die Minijobs, auf die Arbeitgeber eine ermäßigte Sozialabgaben-Pauschale zahlen, haben seit Einführung einen in dieser Größenordnung unerwarteten Aufschwung erlebt. 2007 zählt die Bundesagentur gut sieben Millionen solcher Arbeitsverhältnisse in Deutschland. Aber auch hier ist der Erfolg zwielichtig.



Zweifellos sind die Minijobs äußerst beliebt, was schon die immens große Zahl belegt. Doch sie haben den Arbeitsmarkt nicht nur flexibler gemacht, sondern auch neue Probleme geschaffen. Viele Firmen, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, sind dazu übergegangen, ihre regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse in mehrere Minijobs aufzuspalten. Insbesondere Warenhäuser und Einzelhandelsketten machen davon verstärkt Gebrauch. Das aber macht immer mehr Menschen zu Geringverdienern und verschärft zugleich die Finanznot der Sozialkassen, weil sich damit die Zahl der Beitragszahler deutlichverringert. Zudem bilden die Minijobs laut Hartz-Studie ebenfalls keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.

Der eigentliche Clou von Hartz II aber sollen die Ich-AGs werden. Förderer preisen sie schon kurz nach Einführung als »Wunderwaffe«, die aus Hunderttausenden Arbeitslosen Kleinunternehmer machen sollen. Mit Hilfe eines über drei Jahre gestaffelten Zuschusses können sich Erwerbslose selbständig machen. Was folgt ist ein Existenzgründerboom, der Anfang 2005 seinen Höhepunkt erreicht. Im Februar 2005 registriert die BA über 235.000 Ich-AGs in ganz Deutschland.

Bald aber werden kritische Stimmen laut, die diese Art von Existenzgründerförderung als »Arbeitslosengeld de luxe« brandmarken und eine Pleitenwelle der Ich-AGs voraussagen. Die Kleinfirmengründer seien zu teuer für die Allgemeinheit, ihre Geschäftsideen zumeist wenig seriös, heißt es. Die neue schwarz-rote Bundesregierung bleibt davon nicht unbeeinflusst und beschließt zum 1. August 2006 den Umbau der Förderung: Die Ich-AG wird mit dem Förderinstrument Überbrückungsgeld zu einem neuen Instrument, dem so genannten Gründungszuschuss, harmonisiert.

Ob dieser Umbau Erfolg hat, ist für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) offen. Der »Aktionismus« des Gesetzgebers sei zweifelhaft, beklagt das IAB: »Wünschenswert wäre es, der Evulotionsforschung mehr Zeit zu geben, um auch längerfristige Effekte von Programmen einschätzen zu können.«

Damit stellt das Institut der großen Koalition für diese wichtige arbeitsmarktpolitische Entscheidung ein kritisches Zeugnis aus. Zu Recht, denn die vorhergesagte Pleitenwelle ist nach Analysen des IAB zweieinhalb Jahre nach dem Auftakt der Ich-AG-Förderung ausgeblieben. Eine Befragung von Teilnehmern ergab, dass immerhin rund 70 Prozent nach wie vor selbständig tätig sind. Dabei beträgt der Zuschuss 28 Monate nach Gründung einer Ich-AG höchstens 240 Euro pro Monat und liegt damit unter dem Niveau des regulären Arbeitslosengeldes. Weitere knapp zehn Prozent haben ihre Gründungsidee zwar aufgegeben, dafür aber den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt geschafft.

Aus Sicht der Arbeitslosenkasse ist die Ich-AG damit unter dem Strich eine »preisgünstige Maßnahme« gewesen und zählt zu den erfolgreichen Ansätzen unter den Hartz-Reformen. Von der veränderten Förderung, in deren Rahmen monatlich 300 Euro maximal 15 Monate gezahlt werden, machen derzeit 93.000 Menschen Gebrauch.

MIT HARTZ III KASSE GEMACHT

Anfang 2004 wird aus der Bundesanstalt für Arbeit die Bundesagentur für Arbeit. Die Maßnahme im Zuge von Hartz III ist freilich mehr als nur ein Namenswechsel, sondern beinhaltet den kompletten Umbau der einst trägen Behörde in eine moderne Dienstleistungsagentur. Das ist, attestieren heute sogar Kritiker, trotz »Übergangsproblemen und Widersprüchlichkeiten« weitgehend gelungen.

Immerhin produziert die einst als »unkontrollierbares bürokratisches Monster und Milliardengrab« gebrandmarkte Nürnberger Behörde inzwischen regelmäßig und unerwartet hohe Finanzüberschüsse. Neben der aktuell starken Konjunktur hat vor allem ein neues Controlling - die »Steuerung nach Wirkung und Wirtschaftlichkeit« - daran Anteil.

Wo Vorgänger-Regierungen oft vor Bundestagswahlen die Arbeitslosenstatistiken der Behörde durch weitgehend neue wirkungslose Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen »korrigierten«, muss sich die Förderpolitik nun viel stärker an ihrem Nutzen für eine Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt messen lassen. Ein Schlüssel dazu war die größere Unabhängigkeit der Agentur für Arbeit unter Führung von BA-Chef Frank-Jürgen Weise von direkten Vorgaben der Politik.

Weise gilt als durchsetzungsstark und selbstbewusst. Das kann der ehemalige Unternehmer auch sein. Der Überschuss seiner Agentur steigt und steigt. Allein im August dieses Jahres erzielte die BA einen Überschuss von gut 300 Million Euro. Damit erhöhte sich das Plus im laufenden Jahr auf 2,5 Milliarden Euro. Einnahmen in Höhe von reichlich 27,8 Milliarden Euro standen Ausgaben von lediglich 25,3 Milliarden Euro gegenüber.

Für Albert Boss, den Finanzexperten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, bestätigen die August-Daten den positiven Trend der Vormonate und er prognostiziert: »Am Jahresende dürfte die Behörde einen Überschuss von sechs bis 6,5 Milliarden Euro erzielen.« Eine Milliarde mehr als die Arbeitsagentur gegenwärtig selbst schätzt. Wenn diese Vorhersage eintrifft, ist die BA in der Lage, am Jahresende inklusive des Überschusses aus dem Vorjahr in Höhe von 11,2 Milliarden Euro 17 bis 18 Milliarden Euro auf die hohe Kante legen zu können.

Auch für die Folgejahre rechnet die Arbeitslosenversicherung mit Überschüssen von 26 Milliarden Euro. Vor diesem Hintergrund plant die Union, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung statt um 0,3 Prozent, wie in der Koalition beschlossen, nun um ein Prozent und damit deutlicher als geplant zu senken. Das allein würde der BA allerdings rund 7,8 Milliarden Euro kosten.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund und Teile der SPD fordern stattdessen, mit den Überschüssen der BA eine Qualifizierungsoffensive für Arbeitslose zu finanzieren, was in der Bundesagentur für Arbeit auf wenig Gegenliebe stößt. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, ist der Meinung, dass mehr Geld wenig bringt. Stattdessen müsse noch »zielgerichteter« gefördert werden.

HARTZ IV VERÄNDERT DAS GESCHÄFT

Nach zähem Ringen im Vermittlungsausschuss startet Anfang 2005 das vierte, wie sich bald herausstellen sollte, mit vielen Fehlern behaftete letzte Reformgesetz. Hauptziel von Hartz IV ist es, das jahrzehntelange Nebeneinander von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu beenden. Somit gibt es fortan das Arbeitslosengeld II. Zugleich wird der Bezug des Arbeitslosengeldes I je nach Alter und Ansprüchen von 32 Monate auf 18 oder zwölf Monate verkürzt. Außerdem wurde beschlossen, dass in den neuen Jobcentern Kommunen und Arbeitsagentur den Langzeitarbeitslosen künftig Hilfe aus einer Hand bieten sollen.



Seit Einführung von Hartz IV wird hart und ausdauernd über Sinn und Unsinn, soziale und politische Folgen der wohl wichtigsten Reform innerhalb des Hartz-Paketes heftig und ausdauernd gestritten. Für Gewerkschaften, Sozialverbände, Linkspartei und große Teile der SPD steht Hartz IV für den Kahlschlag des Sozialstaates. Dagegen bewirkt für Teile der Union, viele Ökonomen und Wirtschaftsvertreter dieses Gesetz genau das Gegenteil: den Ausbau des Sozialstaates. Abseits des bislang populistischen Schlagabtauschs aber wird zumindest von beiden Lagern anerkannt, dass Hartz IV die einschneidendste Strukturreform der vier Gesetze markiert.

Gegner wie Befürworter, daran ist nicht zu deuteln, haben gewichtige Argumente vorzubringen und in ihrem Sinne Recht. Doch zunächst einmal führte die Zusammenführung der beiden unterschiedlichen sozialen Sicherungskreise Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über fünf Millionen, was Rot-Grün bei den vorgezogenen Bundestagswahlen die Mehrheit kostete. In der Zwischenzeit sind die Arbeitslosenzahlen, dank eines kräftigen Konjunkturaufschwungs, auf 3,7 Millionen gesunken.

Dennoch: Der Grundgedanke von Hartz IV, »Fordern und Fördern«, bleibt umstritten. Für die Befürworter der Reform motiviert Hartz IV, ungeachtet aller Probleme, das Bemühen Arbeitssuchender, Eigeninitiative bei der Jobsuche auch finanziell lohnender zu machen als passiven Bezug staatlicher Transfers.

Reformgegner werfen dagegen Rot/Grün, insbesondere den Sozialdemokraten Verrat an den Interessen der kleinen Leute vor und argumentieren, speziell der DGB: Die Abkopplung der Leistungen vom zuletzt erzielten Lohnniveau sei ein »fataler Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik«. Schließlich sei damit faktisch eine »Zweiklassengesellschaft« unter den Arbeitslosen entstanden, habe sich das Armutsrisiko drastisch erhöht.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund wertet dafür als Beleg, dass immer mehr Menschen Arbeitslosengeld II bezögen. Dies gelte sowohl für die Gesamtzahl als auch speziell für die zunehmende Zahl erwerbstätiger Aufstocker, deren Arbeitslohn unter dem Hartz-IV-Bedarfssatz liege und erfordert gesetzlich verankerte
Mindestlöhne.

Wirtschaftsinstitute können nur schätzen, wie viele Menschen in der Bundesrepublik derzeit als Geringverdiener gelten, die ohne staatliche Zuschüsse nicht mehr auskommen. Ihre Angaben differieren zwischen 3,8 Millionen und acht Millionen. Übereinstimmend stellen sie jedoch fest, dass der Niedriglohnsektor seit 1997 dramatisch wächst.

Kritiker machen allerdings geltend, dass Hartz IV eh schon wie ein Mindestlohn wirkt. Weil der Staat auch Miet- und Heizkosten sowie die Sozialversicherung übernehme, komme ein Alleinstehender derzeit auf knapp 840 Euro pro Monat. Außerdem erhielten 1,5 Millionen Bedarfsgemeinschaften Zuschläge oder verdienten sich über Ein-Euro-Jobs und andere Beschäftigungen etwas hinzu, wodurch vierköpfige Familien auf Haushaltseinkommen von rund 2.000 Euro kämen. Nicht eingerechnet dabei die Einkommen aus Schwarzarbeit, der nach Einschätzungen des Marktforschungsinstituts Emnid rund 13 Millionen Personen in Deutschland nachgehen, ein Drittel davon sind Arbeitslose und Frührentner. Entsprechend hoch seien die Hürden zur Aufnahme einer regulären Beschäftigung.

Steigende Forderungsansprüche sowie weitere »Webfehler« von Hartz IV kosten der öffentlichen Hand immer mehr Geld. Aber auch darüber wird heftig gestritten, weil eine fundierte wissenschaftliche Analyse voraussichtlich erst 2008 erstmalig vorliegen wird.

Fakt ist: Hartz IV hat bislang stets mehr gekostet als in den Haushaltsplänen veranschlagt wurde. Vor Einführung der Reform im Jahr 2004 gaben Bund, Länder und Gemeinden für Sozial- und Arbeitslosenhilfe 38,6 Milliarden Euro aus. Im Folgejahr 2005 mussten in die öffentlichen Haushalte bereits zehn Milliarden Euro mehr eingestellt werden.

Ausbau oder Kahlschlag des Sozialstaates? Abzocken oder Absturz? Flop oder Fortschritt? Der Streit um die Reformen hält auch nach Abgang von Hartz und Schröder an und gibt der gesellschaftlichen Kakophonie immer neue Nahrung. Mit immer neuen Vorschlägen zu Mindestlöhnen, kommunalen Beschäftigungsmodellen wie »Bürgerarbeit« versucht die Politik den Befreiungsschlag. Derweil nimmt die Klagewelle gegen Hartz IV vor den Sozialgerichten zu.

Die ständig steigende Zahl staatlicher Transferempfänger und der wachsende öffentliche Unmut verändern das politische Geschäft im Lande. Freilich nicht zum Segen dieser Gesellschaft.