Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 10.11.2007

Bilanz der Deutschen Einheit: Eine Sache der Sachsen

Die Vormundschaft in den neuen Ländern muss überwunden werden - wer in Dresden regiert, sollte auch von dort stammen.
 
Im deutschen Herbst 1989 fegte die friedliche Revolution das totalitäre SED-Regime auf den Müllhaufen der Geschichte. Viele Demonstranten schnitten Hammer und Sichel, das Emblem des ungeliebten "Arbeiter- und Bauernstaates", kurzerhand aus der schwarz-rot-goldenen Fahne.

18 Jahre später lohnt es sich, auf Erreichtes und nicht Erreichtes zu schauen. Als eingeborener Dresdner blickt man da zunächst auf Sachsen, aber natürlich ist manches verallgemeinerungsfähig für die neuen Bundesländer, und vielleicht auch für Deutschland.

Nach zwei Diktaturen in bald sechs Jahrzehnten wurde ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat etabliert, die Wirtschaft wettbewerbsfähig gemacht und die Umwelt vor dem Kollaps gerettet. Gewaltige Transferleistungen, finanziert vom westdeutschen Steuerzahler, und die Einbindung der neuen Länder in die Sozialsysteme der Bundesrepublik, ermöglichten einen beispiellosen gesellschaftlichen Umbruch, und dies ohne die Gefahr einer totalen Verarmung.

Ostdeutsche Rentner registrieren das bei ihren Reisen in Osteuropa mit einigem Gruseln - dort haben es die Menschen heute viel schwerer, sich ein Auskommen zu sichern als im Osten Deutschlands.

Abwanderung aus blühenden Landschaften

Der Aufbau einer hochmodernen Infrastruktur für Verkehr, Abwasser und Telekommunikation ist in Sachsen gelungen. "Blühende Landschaften" finden sich nicht nur in der glanzvollen Residenz Dresden. Mancher alte Marktplatz ist im Charme vergangener Jahrhunderte wiedererstanden, Görlitz durfte gar für einen Hollywood-Film als Kulisse für das alte Heidelberg herhalten.

Doch die Kehrseite der Entwicklung sieht man schon, wenn man nach den Menschen vor der Renaissance-Kulisse schaut: Auf dem Lande scheinen diese immer weniger zu werden, und die wenigen werden älter. Wenige Wachstumsinseln wie Dresden oder Leipzig sind umgeben von Städten, die durch Überalterung und Schrumpfung gekennzeichnet sind.

Seit 1945 verlor der Osten Deutschlands ein Viertel seiner Bevölkerung - zuerst durch totalitäre Unterdrückung, dann der besseren Lebensperspektiven im Westen wegen. Die Abwanderung der Aktiven und Leistungsbereiten führte zu einer regelrechten Entbürgerlichung der Gesellschaft. Ohne mündige Bürger funktioniert jedoch keine Bürgergesellschaft, die eine Grundlage bildet für Demokratie, Rechtsstaat und eine mehr oder weniger soziale Marktwirtschaft.

So konnten die Milliarden aus dem Westen das Hauptproblem im Osten nicht lösen: Demokratisches Bewusstsein ist nicht käuflich. Man muss es sich erarbeiten.

Lebensgrundlage der Menschen ist die Wirtschaft, der im Osten immer noch der selbsttragende Aufschwung fehlt. Zwar mangelt es im verarbeitenden Gewerbe bereits an Fachkräften.

Demokratie ist Arbeit

Die strukturelle Arbeitslosigkeit bleibt trotzdem hoch. Die meisten Sachsen in Lohn und Brot arbeiten für niedrige Löhne, die oft vom Staat aufgestockt werden müssen. Eine gerechte Teilhabe an Aufschwung und Wohlstand empfinden sie nicht.

Auch die Politik scheint ihnen ferner denn je zu sein. Nach den Jahren der Diktatur wünschen sie sich eine direktere und weniger repräsentative Demokratie. Sie wollen starke und verwurzelte Politiker, keine blassen Machttechnokraten.

Nach dem Untergang der DDR musste manches Prinzip des demokratischen Rechtsstaats neu erlernt werden. Die Bereitschaft hierzu war groß, doch nach sechs Jahrzehnten Diktatur ist der Lernprozess schwieriger als gedacht.

Er wird hin und wieder erschwert, auch durch die unterschiedliche Behandlung von an sich gleichen Phänomenen in Ost und West. Worin soll der Unterschied liegen, wenn in Mügeln indische Mitbürger bedroht werden, während in Frankfurt am Main ein Rabbi von einem Deutschen afghanischer Herkunft niedergestochen wird?

Unterschiedliche Maßstäbe

Warum wird der eine Fall politisch und medial dazu genutzt, um eine ganze Stadt unter Rechtsradikalismus-Verdacht zu stellen? Im Falle Frankfurt am Main hingegen behandelt man das Geschehen wie eine x-beliebige Straftat. Zu den gefühlten Fragwürdigkeiten des Rechtsstaats gehört auch, wie mit den Vorwürfen über angebliche kriminelle Auswüchse im Freistaat umgegangen wurde:

Warum werden diese nicht offen von den dafür zuständigen Staatsanwaltschaften und Gerichten geklärt? Warum erachten sich die Parteien dafür als zuständig, um strittige Fragen dann mit widersprüchlichen Erklärungen abzutun? Und warum wird etwa beim Thema Sachsen LB nicht offen geklärt, wie viel das Bankabenteuer den Steuerzahler letztlich kosten kann?

Aus all dem nährt sich eine Politikverdrossenheit, die von Gleichgültigkeit in bewusste Wahlenthaltung oder gar Systemablehnung umschlagen kann. Nach Umfragen würden heute fast 40 Prozent der Sachsen eine der beiden extremen Parteien wählen, die NPD und die Linkspartei. Jede davon ist stärker als die SPD, die Linkspartei hat im Gründungsland der Sozialdemokratie mit derzeit rund 28 Prozent sogar mehr als dreimal so viel Wähler wie die SPD.

Viele Menschen haben offensichtlich den Eindruck, dass sie mit dem öffentlichen Leben nichts zu tun haben. Sie sehen ihre Lebensleistung nicht anerkannt und denken wie früher, dass Kritik nur Folgen für den Kritiker habe. Also ziehen sie sich in eine private Nische zurück.

Potential von tausend Jahren

Sachsen, das Mutterland der friedlichen Revolution, ist in Deutschland angekommen. Was aus dem Land wird, das hängt aber nun vornehmlich von uns Sachsen selbst ab. Wir müssen uns auf die eigenen Stärken besinnen, nicht wie früher auf die Obrigkeit hoffen und nicht immer nur Hilfe von anderen fordern.

Das "sächsische Potential" ruht in unserer tausendjährigen Geschichte, der reichen Kultur, der wunderbaren Landschaft und einer fleißigen, kreativen Bevölkerung. Daraus entwickelten sich Lebensgefühl und Stolz der Sachsen, die darin nur den Bayern vergleichbar sind.

Wir brauchen jedoch eine Politik in, für und von Sachsen, auch an der Spitze des Freistaats. Die Regierenden sollten aus der Mitte der Sachsen kommen. Gerade nach der Erfahrung des vormundschaftlichen DDR-Staats gilt es, zum demokratischen Mitdenken, Mitreden und Mithandeln zu ermuntern.

Gute Zahlen genügen nicht. Politik muss mehr sein, sichtbar den Menschen dienen wollen und konstruktive Kritik herausfordern.

"Deine Kritiker sind deine Freunde, denn sie zeigen dir deine Fehler", sagte einst Thomas Jefferson. Solche Freunde werden jetzt gebraucht, wenn nach der äußeren auch die innere Einheit in Deutschland erreicht werden soll.

Eine Außenansicht von Matthias Rößler

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Matthias Rößler gehörte von 1994 bis 2004 der sächsischen Landesregierung an, zunächst als Kultus-, später als Wissenschaftsminister. Er ist CDU-Abgeordneter im Landtag.