Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 12.11.2007
Staatsanwälte in Erklärungsnot
Aktenaffäre: Ein Hauptbeschuldigter konnte Geheimpapiere einsehen / Juristisches Nachspiel
Dresden. Die Affäre um Geheimakten des sächsischen Verfassungsschutzes schlägt weiter Wellen im Freistaat. So wurde am Wochenende bekannt, dass ein Hauptbeschuldigter, ein ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt, die Möglichkeit zur Einsicht in hochvertrauliche Unterlagen erhalten hatte. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet, der Jurist habe auf dem Höhepunkt der Affäre im Juli bei der Staatsanwaltschaft Dresden persönlich einen Teil der Akten aus den Beständen des Verfassungsschutzes einsehen können, in denen er selbst belastet wird.
Darüber hinaus seien seinem Anwalt im September viele Ordner mit Ermittlungsunterlagen zu insgesamt zwölf Fällen überlassen worden. Dabei handele es sich um Originalakten, die der Anwalt gleich für mehrere Tage mitnehmen durfte.
Dies hat jetzt erhebliche Folgen, politisch, aber auch juristisch. Zum einen ermittelt die Dresdner Staatsanwaltschaft wegen der Verletzung von Dienstgeheimnissen gegen unbekannt (Aktenzeichen 205 UJs 20235/07). Hintergrund ist, dass Auszüge dieser Geheimbestände – ein nicht autorisiertes Vernehmungsprotokoll eines Leipziger Polizisten zum Beispiel – mittlerweile in den Medien aufgetaucht sind. Vor allem aber gerät die Staatsanwaltschaft selbst in Erklärungsnot. So meldeten die Opposition sowie SPD-Mann Karl Nolle heftigen Protest an. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zur Aktenaffäre, Klaus Bartl (Linke), kündigte gegenüber dieser Zeitung seinerseits eine Anzeige wegen Verletzung der Geheimhaltungspflicht an. Der Verdacht richte sich nicht zuletzt gegen Ex-Generalstaatsanwalt Jörg Schwalm.
Der Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft, Christian Avenarius, widersprach den Vorwürfen gestern. Betroffene hätten über ihre Anwälte prinzipiell Anspruch auf Akteneinsicht, das sei auch hier der Fall. „Dabei haben die Anwälte auch Originalakten bekommen, das ist ein völlig normales Verfahren“, so Avenarius. Bartl sieht das anders. „Das ist undenkbar und widerspricht jedweder Praxis bei so einem heiklen Verfahren.“ Schließlich handle es sich um geheime Quellen des Verfassungsschutzes. Jeder, der damit umgehe, müsse mehrfach sicherheitsüberprüft werden. So würden die Unterlagen dem U-Ausschuss im Landtag seit Wochen verweigert, Beschuldigten aber gewähre die Staatsanwaltschaft ungehindert Einsicht.
Das hätte durchaus verhindert werden können. Nach Recherchen dieser Zeitung handelt es sich bei den Ermittlungen um ein „gesperrtes Verfahren“, für das Sonderregeln gelten. So kennen lediglich vier Staatsanwälte Details, die Einsicht hätte verweigert werden können, wenn nicht gar müssen. In der Tat kann laut Strafprozessordnung die Einsicht in Beweisstücke versagt werden, wenn dies „den Untersuchungszweck gefährden kann“ (Paragraph 147.2). Nach Ansicht von Avenarius hat dieser Passus hier aber nicht gegriffen.
Das regt Nolle auf. „Hier sind Staatsgeheimnisse durch die Gegend geschickt worden“, sagt der SPD-Politiker. Das sei nicht nur fahrlässig, sondern kontraproduktiv. Schließlich unterlaufe die Staatsanwaltschaft ihre eigene Verfolgungsstrategie, wenn sie Beschuldigten – oder deren Anwälten – vollständig Akteneinsicht gewähre.
Von JÜRGEN KOCHINKE