Karl Nolle, MdL

Welt-online, 13:49 Uhr, 13.01.2008

Hessen: Schwache Andrea Ypsilanti ist plötzlich stark

Seit Andrea Ypsilanti (SPD) im hessischen Wahlkampf die Widersprüche zu Roland Koch (CDU) betont, läuft es für sie blendend
 
Lange galt Andrea Ypsilanti im harten Wahlkampf in Hessen als chancenlose Kandidatin. Doch nach dem Linksruck der SPD steht die Frau im Zentrum – und profitiert von den Fehlern des Amtsinhabers. Ihr Erfolgsrezept ist es, sich auch in Krisenzeiten unbedingt treu zu bleiben.

Er oder sie – nicht lang ist es her, da erschien das noch als eine Zuspitzung, die man als Sozialdemokrat in Hessen mit Blick auf die dortige Landtagswahl unbedingt vermeiden musste. Zu schwach die eigene Spitzenkandidatin, zu stark der christdemokratische Amtsinhaber, zu aussichtslos die Perspektive, mit einem personalisierten Wahlkampf mehr zu gewinnen als ein mitleidvolles Lächeln des politischen Widersachers. Als „Frau XY“ kanzelte Gerhard Schröder sie einst ab, in einer Mischung aus Verärgerung und Geringschätzung.

Jetzt, zwei Wochen vor den Wahlen, ist die Befürchtung Wirklichkeit geworden, und die Mann/Frau-Alternative klebt auf den Wahlplakaten zwischen Darmstadt und Kassel, zwischen Wiesbaden und Eschwege. Allerdings sehen die Plakate deutlich anders aus als erwartet: „ER fordert Armutslöhne. SIE kämpft für Mindestlöhne“ steht da drauf. Oder: „ER ist für Auslese. SIE steht für Bildungsgerechtigkeit.“ Und: „ER setzt auf Atomkraft. SIE setzt auf Neue Energie.“ Gleich zwei Erkenntnisse vermittelt diese Wahlplakatlektüre. Erstens: Nicht ER setzt in der heißen Phase ganz auf Personenwahlkampf, sondern SIE, nicht Roland Koch, sondern Andrea Ypsilanti. Und zweitens: Hessen steht Kopf.

Schwache Prognosen für Roland Koch

Am 27. Januar wählen Hessen und Niedersachsen neue Landtage, vier Wochen später die Hamburger eine neue Bürgerschaft. Drei Wahlen – doch ganz Deutschland schaut nur Richtung Main. Weil dort Ungeheures geschieht. Die Kontrahenten: auf der einen Seite der seit neun Jahren amtierende Ministerpräsident, die gar nicht so heimliche Nummer zwei der CDU. Ein Strippenzieher und Männerbündler, ein politisches Schwergewicht, dem selbst die Bundesspitzen der deutschen Sozialdemokratie höchsten Respekt zollen. Kurz: ein Ersatzkanzler für den Fall der Fälle. Sein Gegenüber: die SPD-Herausfordererin, die sich intern nur knapp als Spitzenkandidatin durchsetzen konnte, selbst den eigenen Genossen als reine Zählkandidatin galt. Sie steht politisch weit links – und ein erwarteter Start-Ziel-Sieg verwandelt sich vor den Kameraaugen einer verblüfften Nation in ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die schwache Ypsilanti ist plötzlich stark – und der starke Koch ziemlich schwach. Bei rund 40 Prozent verharrt die Koch-CDU in den Umfragen schon seit Wochen. Neun Punkte weniger als 2003. Nichts verleiht Kochs Wahlkampf Schwung. Nicht seine Attacken auf die linke Widersacherin. Nicht sein Angstschüren vor den „Kommunisten“. Nicht seine Kampagne über Jugendkriminalität und Ausländer.

Ypsilantis Umfragewerte steigen stetig

Die Ypsilanti-SPD hingegen klettert und klettert. Bei 29 Prozent ist sie gestartet, vor zwei Wochen lag sie bei 32 – und nun stieg sie über 35 (Infratest dimap, Donnerstag) auf 36 Prozent (Forschungsgruppe Wahlen, Freitag). Und, überraschender noch: Würde in Hessen der Ministerpräsident direkt gewählt, entschieden sich 44 Prozent der Leute für Koch – und exakt genauso viele für Ypsilanti. All die Zahlen werfen nur eine Frage auf: Was ist da geschehen? Nun, geschehen ist vor allem dies: Ypsilanti hat so vieles richtig gemacht, Koch so manches falsch. Das fiele aber weniger dramatisch aus, wenn sich nicht zugleich etwas ereignet hätte, auf das beide zwar wenig Einfluss hatten, von dem SIE aber deutlich mehr profitiert als ER: Die politischen Koordinaten des Landes haben sich verschoben. Nicht allein in Hessen, sondern in ganz Deutschland. Der Zeitgeist hat sich nach links verflüchtigt – und die Parteien sind hinterhergerobbt. SPD wie Union. Ypsilanti gehört zu den wenigen, die stehen bleiben konnten. Weil die anderen dorthin kamen, wo sie längst war. Ypsilanti hat einst gegen die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes mobil gemacht, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kritisiert, an der „Jeder Job ist zumutbar“-Rhetorik rumgemosert, gegen die Rente mit 67 gestänkert.

Gegensätze zu Schröders Standpunkten

Sie hat also all das abgelehnt, wozu der Agenda-2010-Erfinder Gerhard Schröder und dessen Erbverwalter Franz Müntefering Zustimmung verordnet hatten. Mittlerweile ist sie mit ihrer Parteiführung wieder im Reinen: Die SPD hat die Zahlung des Arbeitslosengeldes wieder verlängert. Sie diskutiert eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze, erwägt eine Änderung der Zumutbarkeitskriterien und findet immer neue Ausnahmefälle für die Rente mit 67. Und jedes Mal, wenn die SPD wieder ein wenig von dem zurücknimmt, was sie einst verordnet hat, kann Frau XY wieder ein Häkchen machen: „Meine Position, meine Position, meine Position.“ Das bringt nicht nur Selbstvertrauen, es vermittelt auch Glaubwürdigkeit. Hier stehe ich und war nie anders. Ypsilanti ist sich nur treu geblieben – und aus der Außenseiterin vom linken Rand ist der neue Liebling der Parteimitte geworden. Mit dem besten Ergebnis aller Bewerber wurde sie auf dem Hamburger Parteitag in das neue Präsidium gewählt. Aus der Schwäche eine Stärke zu machen hat im System Ypsilanti Methode. Man nehme nur ihren Namen, Überbleibsel einer frühen Ehe mit einem Griechen. Aus Schröders „Frau XY“ hat sie die „Frau“ sowie das „X“ gestrichen und das „Y“ auf Pappen kleben lassen, die willige Helfer bei ihren Veranstaltungen nun stets so geschickt gen Himmel recken, dass eine Welle aus stilisierten Siegeszeichen über der Menge wogt.

Sie ist auf der Gewinnerseite

Am liebsten verwandelt sie aber Kochs Schwächen in eigene Stärken. Oder zumindest das, was sie für Kochs Schwächen hält. Bildungs- und Energiepolitik etwa. Neben der Mindestlohnkampagne hat sie dies ins Zentrum ihres Wahlkampfs gerückt. Und auch hier setzt sie auf das Prinzip, das im „ER oder SIE“ seine Verdichtung findet. So anders als Roland Koch zu sein, wie es nur irgend möglich ist. Privat ist ihr dieses Anderssein übrigens längst gelungen: geschieden, Freund, unehelicher Sohn, Wohngemeinschaft statt Musterfamilie. Warum Kochs Kampagne wider ausländische Jungkriminelle nicht verfängt? Sie ist – bei aller Zustimmung in der Bevölkerung – als Wahlkampfthema erkannt. Außerdem kontert Ypsilanti nach anfänglicher Schreckstarre Koch mit den hessischen Defizitzahlen zur Inneren Sicherheit aus. Inzwischen ist der Gegenwind so rau, dass sich Koch sogar in der „Bild“ von seiner Frau unterstützen lässt: „Man kann aus meinem Mann keinen Verbrecher machen.“

Die Kampagne verfängt aber auch nicht, weil die meisten Bürger nicht in schärferer Repression eine Lösung sehen, sondern in verstärkter Prävention. So halten laut Umfrage nur 42 Prozent der Deutschen eine Erhöhung der Höchsthaftstrafe von zehn auf 15 Jahre für ein probates Mittel im Kampf gegen Jugendkriminalität.

Und was sagt Ypsilanti dazu? „Meine Position.“ Egal wie die Wahl in Hessen ausgeht: SIE wird selbst dann zu den Gewinnern zählen, wenn sie verlieren sollte. ER auf keinen Fall.
Von Peter Dausend