Karl Nolle, MdL

DER SPIEGEL 8/2008, 17.02.2008

LINKE: Im roten Rausch

Nach den Wahlerfolgen im Westen baut Oskar Lafontaine die Macht in seiner Partei aus - und stichelt gegen die einzige rot-rote Koalition.
 
Der Mann, der gern zu Kraftausdrücken neigt, wurde plötzlich leise und pathetisch. Den Kopf gereckt und wie immer leicht gerötet, hielt er ein Blatt Papier in der Hand, um daraus zu zitieren. "Ihr seid ein Sonnenstrahl", las er vor, erst dann verriet er, woher die Zeilen stammten - aus einem Glückwunschschreiben spanischer Sozialisten zu den Wahlerfolgen von Hessen und Niedersachsen. "Auf Spanisch", fügte Lafontaine weltmännisch hinzu, "klingt es noch viel schöner." Andächtig lauschten die Mitglieder der linken Bundestagsfraktion vergangenen Dienstag ihrem Vorsitzenden, der gar nicht aufhören wollte zu schwärmen: "Ich sehe die Morgenröte am Horizont, wir müssen nur noch darauf zulaufen."

Von der Morgenröte war schon lange nicht mehr die Rede im Deutschen Reichstag. Aber acht Monate nach Gründung der Linken, nach Wahlerfolgen im Bund und in drei westdeutschen Ländern, ist der politische Wiedergänger Lafontaine nicht mehr zu halten - er ist im roten Rausch. Und seine Partei reißt er gleich mit. "Zehn Prozent als Sockel scheinen uns jetzt sicher", schwor er seine Fraktion ein. Ihm aber, dem großen Vorsitzenden, reicht das nicht: "Ab jetzt müssen wir lernen, als Volkspartei zu denken." Lafontaine will nichts mehr hören von der alten PDS und der früheren WASG, von ost- oder westdeutschen Befindlichkeiten.

Für den bedeutendsten Saarländer seit Erich Honecker gibt es nur noch große Herausforderungen: das "Volk" erreichen - und die SPD mit ihrem "Dorfbürgermeister" Kurt Beck weiter demütigen. Die Machtmaschine Lafontaine ist wieder da - er ist die unumstrittene Nummer eins der Linken, und wer stört, bekommt dies zu spüren. Im Überschwang des Erfolgs stellt er alles in Frage, was sich die einstige PDS in langen, zähen Jahren an realpolitischen Positionen erarbeitet hat. "Ankommen in der Bundesrepublik", hatte Gregor Gysi seinen Anhängern gepredigt. Lafontaine fordert nun das genaue Gegenteil - den Abschied von dieser Realität. In seinen Augen kann die Linke nur weiter wachsen, wenn sie unbefleckt bleibt von politischen Kompromissen. "Glaubwürdigkeit ist unser Erfolg, dadurch unterscheiden wir uns von den anderen Parteien", lautet sein Credo. Sogar das Stückchen Macht, das die Partei in den Händen hält, den rot-roten Senat in Berlin, setzt er dafür aufs Spiel. Wo auch immer Lafontaine intern diskutiert, da schwärzt er die Berliner Parteifreunde an. Fast alles hält er für Mist, was die Genossen um den linken Wirtschaftssenator Harald Wolf in der Hauptstadt treiben.

Haushaltssanierung, Stellenabbau - für ihn ist das alles neoliberaler Humbug. Vergangenen Mittwoch saß Lafontaine wieder mit Abgesandten der Berliner Linken zusammen. Er solle nicht so schlecht über sie reden, beschwerte sich die Delegation, nicht in den West-Landesverbänden gegen die Linken Berlins sticheln. Doch Lafontaine kennt kein Pardon, die Parteispitze drängt die Berliner zum Konflikt mit Regierungschef Klaus Wowereit (SPD). Sie sollen ein Nein Berlins im Bundesrat zum angeblich neoliberalen EU-Reformvertrag durchsetzen. Diplomatisch haben Berliner Linke das Ansinnen der Parteioberen bereits Wowereit erläutert, sich davon distanziert und etwas ratlos dreingeblickt. Wowereit will, dass Berlin dem EU-Vertrag im Mai zustimmt.

"Die Stadt Willy Brandts gegen Europa, das kann nicht sein", sagt SPD-Landeschef Michael Müller. Intern wiesen die Sozialdemokraten die Linken darauf hin, welch bundespolitisches Signal von Berlin ausgehen würde, wenn der rot-rote Senat an Europa scheitern sollte. Vorerst wurde der Konflikt vertagt - bis zur Wahl in Hamburg. Doch Wowereit ist alarmiert - ihm ist nicht entgangen, wie viele der dunkelroten Genossen sich von der Kraftmeierei des Saarländers anstecken lassen. So ansteckend ist der Lafontainismus, weil er bei einem Minderwertigkeitskomplex ansetzt. Der Westdeutsche gibt seinen neuen Freunden, wonach sie sich immer gesehnt hatten: Bedeutung und Anerkennung. "Viele hatten gedacht, dass unser Ost-Image auf ihn übergeht", freut sich Gysi, "tatsächlich ist sein Image auf uns übergegangen." Die einst Aussätzigen überlassen dem großen Vorsitzenden die Kursbestimmung und genießen ihre eigene, neue Rolle.

Parteivize Katja Kipping plaudert plötzlich ganz lässig in "Vanity Fair" über Tschechow. Die Parteizeitung "Neues Deutschland" vermeldet den Ritterschlag durch einen Intimfeind - "Stoiber: LINKE ernst nehmen". Doch wie jeder Rausch hat auch dieser erhebliche Nebenwirkungen: Die Genossen beginnen die Vergangenheit schönzureden. Die niedersächsische Landtagsabgeordnete Christel Wegner ließ sich vom ARD-Magazin "Panorama" mit dem Satz zitieren, eine andere Gesellschaftsform brauche ein Organ wie den Staatssicherheitsdienst.

Empört reagierte die Linken-Führung, dabei hat auch Lafontaine Erstaunliches zur DDR im Angebot. In einer "mehr als misslichen Lage", schreibt er im Vorwort zum neuen Buch des letzten SED-Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow ("In historischer Mission"), habe "die DDR Beachtliches geleistet: vom Arbeitsgesetzbuch (das in der Bundesrepublik bis heute seinesgleichen sucht) über die Volksbildung, die medizinische Versorgung, die Landwirtschaft bis hin zur Sozialpolitik".

Im Gegenzug für den DDR-Revisionismus spricht Gysi seinen Partner Lafontaine immer wieder vom Vorwurf des Verrats frei, der am früheren SPD-Vorsitzenden nagt, seitdem er im März 1999 aus allen Ämtern floh. Nicht Lafontaine habe sich verändert, sondern die SPD, wiederholt Gysi in beinahe jeder Rede. Ossi und Wessi waschen sich gegenseitig rein.

Verdrängt wird derweil, dass die Linke vor allem von den Problemen anderer lebt. "Wir standen vor dem Scheitern. Gerhard Schröder hat uns durch seine Agenda-Politik gerettet", sagt der Europaabgeordnete und Partei-Vordenker André Brie. Lafontaine aber kennt keine Selbstzweifel. Die Geschichte der Linken verlief aus seiner Sicht so: "Schlag eins" war der "erfolgreiche Antritt" bei den Bundestagswahlen 2005, "Schlag zwei die Parteienfusion 2007", Schlag drei "der Einmarsch im Westen 2008". "Und mit jedem Schlag", frohlockt Lafontaine, "werden die anderen nervöser."

Ging es ihm bisher darum, sich vor allem als Retter der Arbeitslosen zu positionieren, will er nun "das politische Spektrum erweitern". Er holt zum vierten Schlag aus - und der zielt auch auf die politische Mitte. Er hat die Wählerwanderungen in Niedersachsen und Hessen genau analysieren lassen und festgestellt, dass die Linke in beiden Ländern zusammen auch 43 000 Stimmen bei der CDU holte. In der von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht sieht er noch "großes Potential", all jene, die dieses diffuse Gefühl beschleicht, "dass es ungerecht zugeht im Land".

Dazu passt auch die Überlegung, bei den Landtagswahlen im Saarland 2009 im Wahlkreis von Ministerpräsident Peter Müller (CDU) anzutreten. Das Signal wäre eindeutig: Er nimmt es mit jedem Regierenden auf. An der Saar ist die Linke mit rund 20 Prozent in den Umfragen bereits Fast-Volkspartei. Sämtliche Koalitionspläne der anderen Parteien könnte Lafontaine hier torpedieren, er wäre dann wieder das, was er schon einmal als SPD-Grande war: der Blockierer, an dem keiner vorbeikommt.

Schon jetzt liebt er es, die eigenen Bataillone aufzuzählen: Gemessen an Mandatsträgern und Mitgliedern ist die Linke die drittstärkste Kraft in Deutschland. Linke sitzen in 9 von 16 Landtagen, am nächsten Sonntag soll Hamburg folgen. Fast die gesamte Bundestagsfraktion wird diese Woche zum Wahlkampf in der Hansestadt verpflichtet. "Wir werden die Stadt überschwemmen und an jeder Ecke stehen", protzt Wahlkampfleiter Bodo Ramelow.

Für Zweifel und Zweifler bleibt da wenig Raum. "Schlimm ist", sagt Brie, "dass die Programmdebatte noch gar nicht begonnen hat. Wir müssen zum Beispiel sagen, wie unsere Alternative zu Hartz IV konkret aussieht." Auch Vorstandsmitglied Jan Korte mahnt: "Wir bereiten uns zu wenig vor auf die Debatten, die jetzt kommen: Man wird uns auch inhaltlich stärker stellen."

Solche Wortmeldungen wischt Lafontaine weg. Nichts soll die Siegesstimmung trüben, obwohl den Strategen in der Parteizentrale in Berlin sehr wohl bewusst ist, dass der Linken im Westen noch Köpfe, Strukturen und Erfahrung fehlen. Zu Basisversammlungen dort schickt die Zentrale Aufpasser, die mit Computern im Hinterzimmer sitzen. Jeder, der das Wort ergreift und sich empfehlen will für Aufgaben in der Partei, wird von dem Kontrolleur im Internet gegoogelt.
Die Oberaufsicht über den West-Aufbau hat Ulrich Maurer, Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion und rechte Hand von Lafontaine. Er gibt den Ton vor, der manche aus dem Osten an alte Zeiten erinnert. Es solle jetzt ja keiner wagen, an "der Lichtgestalt zu rütteln, sonst könnte es auch ganz schnell wieder zappenduster werden", so Maurer.

Die Lichtgestalt beschädigen kann nach derzeitiger Lage nur Lafontaine selbst - weil sein Ego kaum mehr Grenzen kennt. Für seinen radikalen Weg hat er eine Erklärung parat, die an linke Heldengeschichten um Wladimir Iljitsch Lenin erinnert. Nach der Genesung vom Attentat 1990, erzählte Lafontaine in intimer Runde, habe er plötzlich unglaubliche Lust gehabt, mit Steinen etwas zu mauern. Seine Erklärung: Bei den Transfusionen nach dem Attentat müsse er das Blut eines Arbeiters, eines Maurers, erhalten haben.
MARKUS DEGGERICH