Karl Nolle, MdL
Freie Presse Chemnitz, 06.03.2008
„SPD hat die kleinen Leute aus den Augen verloren"
Ex-SPD-Mitglied Schmitt berichtet über Wechsel zur Linkspartei - „Partei hat sich von Schröder erpressen lassen" - "In Sachsen lässt sich SPD von CDU über den Tisch ziehen"
Dresden. 37 Jahre war er Mitglied in der SPD, 19 Jahre saß er für die saarländische SPD im Saarbrücker Landtag, sieben Jahre arbeitete er als Geschäftsführer die SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Im vergangenen Jahr trat Leo-Stefan Schmitt (55) aus der Partei aus, schloss sich den Linken an und koordiniert seit wenigen Wochen als Fraktionsgeschäftgführer der Linksfraktion in Bremen die bunt zusammengewürfelte Parlamentstruppe. Im Gespräch mit Hubert Kemper berichtet Schmitt über die Gründe seines Wechsels, über seine Einschätzung der sächsischen SPD und die Zerreißprobe, der sich seine alte Partei ausgesetzt sieht
Freie Presse: Warum verlässt ein Urgestein wie Sie eine Partei, der er fast 4o Jahre angehört hat?
Leo-Stefan Schmitt: Eine solche Entscheidung ist das Ergebnis einer Serie von enttäuschenden Entwicklungen. Ich fühlte mich am Ende nicht mehr wohl in einer Partei, die die kleinen Leute aus den Augen verloren und einen Rechtsruck vollzogen hat.
Freie Presse: Woran machen Sie das fest?
Schmitt: Vor allem am Einfluss von Gerhard Schröder. Von ihm hat sich die SPD knuten und erpressen lassen. Das begann 1998 mit dem Verzicht auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Es setzte sich fort mit den Hartz-Gesetzen, die Millionen Menschen unter die Sozialhilfesätze gedrückt und älteren Arbeitnehmern Anrechte auf längeren Bezug von Arbeitslosengeld gekappt haben und endete nach der letzten Wahl, als die Mehrwertsteuer entgegen der vorherigen Versprechen von 16 auf 19 Prozent erhöht worden ist.
Freie Presse: Deutschland war der kranke Mann Europas, bevor Schräders Reformen griffen und Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden. Blenden Sie das aus?
Schmitt: Nein, aber ebenso wenig übersehe ich, dass wir immer stärker in eine „Paternoster-Gesellschaft" steuern. Das ist wie bei dieser Art Fahrstühle. Nur wer beweglich ist, kommt rechtzeitig rein. Alte, Behinderte, Schwache bleiben draußen, Das thematisiert die Links-
partei, und wie man sieht mit Erfolg.
Freie Presse: Ihr Parteichef und Landsmann Lafontaine muss sich selbst von Ost-Genossen hemmungslosen Populismus vorwerfen lassen. Kann Deutschland in einer globalisierten Welt als Wohlfahrtsinsel überleben?
Schmitt: Sicher nicht. Aber wir können mehr Gerechtigkeit schaffen, indem beispielsweise Einnahmequellen wie Erbschafts- und Vermögenssteuer an das Niveau anderer europäischer Länder angepasst werden. Derzeit entgehen uns rund 4o Milliarden Euro, die auch in die Bildung investiert werden könnten.
Freie Presse: Sie halten Ihrer Ex-Partei einen Rechtsruck vor, zugleich steht die SPD vor einer Zerreißprobe, weil Kurt Beck die Öffnung nach Links durchsetzen will.
Schmitt: Die SPD wird endgültig scheitern, wenn sie die Fakten ignoriert. Die Linken sind Realität in inzwischen to Länderparlamenten mit mehr als Ao Abgeordneten. Wer uns durch Verteufeln oder Ausgrenzen klein halten will, schadet sich am Ende selbst. Es ist mir unbegreiflich, wie man derartig dumme
Politik betreiben kann, die jegliche mittelfristige Macht- und dadurch Veränderungsoption kategorisch ausschließt und die SPD zum langfristigen Juniorpartner der CDU macht.
Freie Presse: Was will die Linke denn wirklich- Fundamental-Opposition ä la Lafontaine oder Mitgestaltung wie viele Realos im Osten?
Schmitt: Die Berliner Koalition mit unserer Beteiligung gibt doch die Antwort, ebenso der Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt von Bodo Ramelow in Thüringen und die langjährige Zusammenarbeit von Linken und SPD in Merktenburg-Vorpommern, die übrigens von der SPD ohne Not aufgekündigt wurde. Und mein Freund lens Bullerjahn in Sachsen-Anhalt könnte genau so gut mit der Linken in Sachsen-Anhalt regieren. Dort ist die SPD, weil die Linke stärker war als sie und den Ministerpräsidenten gestellt hätte, lieber eine Koalition mit der CDU eingegangen. Also stellt sich die Frage zunächst in Richtung SPD. Linke Politik kann nur glaubwürdig sein, wenn sie sich in der Praxis beweist.
Freie. Presse: In Sachsen hatten Sie mit der SPD die Chance, Regierungspolitik zu betreiben.
Schmitt: ... mit dem Ergebnis, dass ich ausgestiegen bin. Nein, in Sachsen lässt sich die SPD von der CDU permanent über den Tisch ziehen, siehe Verwaltungsreform, Stellenpläne im Öffentlichen Dienst, Hochschulgesetz etc. Eine personelle Absicherung der SPD in der Verwaltung lässt auch heute noch auf sich warten. Inhalte spielen keine Rolle. Die Mandatsträger sichern gegenseitig ihre Pöstchen und freuen sich über kleine Zuwächse in Umfragen, die bei weitem nicht ausreichen, die Sachsen-SPD auch nur auf das Ost-Niveau zu bringen. Und so wird die SPD in Sachsen ob ihrer Schwäche entweder wieder in der Opposition enden oder wegen der Rechtsradikalen im Parlament wieder Appendix der CDU werden.
Freie Presse: Wie fühlt ein lang gedienter Parteisoldat, wenn er Mit seiner Routine die bisherige politische Konkurrenz trainiert?
Schmitt: Wenn mein „Training", wie Sie sagen, dazu beiträgt, dass die Linke im Westen immer stärker wird, wird auch die SPD weiter gezwungen sein, sich zu erneuern. Viele in dieser Truppe haben das noch nicht gemerkt Aber wir werden sie weiter treiben. Und dann bleibt entweder eine Rückbesinnung auf linke Politik für die SPD übrig oder sie wird zum endgültigen Juniorpartner der CDU verkümmern und die Linke wird immer stärker werden.