Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 30.04.2008

„Nur Verschwörungstheorie“

Aktenaffäre: Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen zu Geheimdossiers ein / Juristen entlastet
 
Dresden. Als vor fast genau einem Jahr erste Berichte über Geheimdossiers des Verfassungsschutzes zur Organisierten Kriminalität (OK) die Runde machten, war die Erregung erheblich. Abgeordnete aller politischen Lager forderten Aufklärung, schließlich enthielten die 15 600 Blatt Papier Vorwürfe der ungeheuerlichen Art – eine wilde Mischung aus Kindesmissbrauch, dubiosen Immobiliendeals in Leipzig und verwickelten Justiz- und Polizeibeamten.
In den Wochen danach nahm die Affäre um die Sammlung aus den Panzerschränken der Schlapphüte schnell ihren Lauf. Da erklärte zum Beispiel das Mitglied der geheimen Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) Frank Kupfer (CDU), er kenne ähnliches „nur aus schlechten Krimis“. Dann kam Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) persönlich. In seiner Mafia-Rede vor dem Landtag bestätigte er das, was bundesweit längst als Gewissheit galt: Sachsen sei durchsetzt von Mafia-Strukturen, die OK habe den Freistaat im Griff.

Mittlerweile hat sich das Horrorszenario weitgehend entzerrt, gestern wurde es nun auch offiziell ad acta gelegt. Nach monatelagen Untersuchungen hat die Staatsanwaltschaft Dresden ihre Ermittlungen nahezu komplett eingestellt – kein Anfangsverdacht. Das betrifft sowohl die Bereiche italienische Mafia wie mögliche OK-Strukturen im Vogtland als auch jene Zentral-Vorwürfe, die sich rund um kriminelle Netzwerke in Leipzig rankten. Lediglich in einem Fall, dem Komplex Rocker, laufe das Ermittlungsverfahren noch, werde aber ähnlich enden wie die anderen, so der Leiter der Staatsanwaltschaft, Erich Wenzlick.
Dabei ließen die Ergebnisse, die Wenzlick sowie Sprecher Christian Avenarius präsentierten, wenig Spielraum für Interpretationen. Die rund 90 Zeugen, die im Falle Leipzigs vernommen wurden, seien nicht in der Lage gewesen, den Verdacht zu bestätigen; die Vorwürfe in den Verfassungsschutz-Akten seien größtenteils nicht belegt, die Geheimquellen oft nur vorgetäuscht; und Belastungszeugen, vor allem zwei ehemalige Prostituierte aus dem Leipziger Kinderbordell Jasmin, hätten sich in Widersprüche verwickelt. Fazit laut Wenzlick: Es handle sich nur um eine „Verschwörungstheorie“, für die so Belasteten eine Art „sozialer Genickschuss“.

Gemeint sind hiermit vor allem zwei Hauptverdächtige, die in den Akten als Mittelpunkt einer OK-ähnlichen Gruppe in Leipzig fungieren und nun entlastet sich: ein ehemaliger leitender Oberstaatsanwalt sowie ein ehemaliger Richter. Laut Avenarius gebe es nicht die geringsten Hinweise, dass beide sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hätten. Dasselbe gelte für Vorwürfe, beide hätten Einfluss genommen aufs Jasmin-Verfahren und das Attentat auf den Ex-Manager der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB), Martin Klockzin.
Das hat sich seit Monaten angedeutet. Bereits im Sommer vergangenen Jahres gingen Politiker davon aus, es handle sich allenfalls um Pfützen, nicht aber um einen flächendeckenden Sachsen-Sumpf. Im September verkündeten Ermittler dann öffentlich, die Akten enthielten vor allem eines: „heiße Luft“. Seit gestern ist die Justiz nun aus dem Schneider, Polizei und Verfassungsschutz aber sind es nicht – und das zuständige Innenressort schon gar nicht. Versagen der Fachaufsicht lautet das Stichwort, konkret geht es um handwerkliche Fehler beim Geheimdienst und bei der Arbeit der Polizei. Und die politische Bewertung steht ebenfalls noch aus. Schließlich tagt der U-Ausschuss weiter zum Thema.
Darüber hinaus drohen dem Land Schadensersatzansprüche. So fordert der ehemalige Oberstaatsanwalt 250 000 Euro – wegen Rufschädigung.
Von JÜRGEN KOCHINKE