Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 18.06.2008
So kommen die Sozialdemokraten endlich aus der Krise
Von Franz Walter
Der Chef umstritten, die Umfragewerte katastrophal, das Programm widersprüchlich: Die SPD muss dringend umsteuern, um aus der Krise zu kommen. Dafür muss sie endlich ihren Kurs der "neuen Mitte" verinnerlichen - und sich machtpolitisch gegenüber der Linken öffnen.
Göttingen - Natürlich: Es ist schon möglich, dass sich die Sozialdemokraten in der Kanzlerkandidatenfrage im Laufe der nächsten Monate noch stärker zerlegen, als sie es ohnehin schon getan haben. Es könnte aber auch sein, dass sich die Lage für die Sozialdemokraten in den nächsten Wochen ein bisschen entspannt - denn es gibt einfach einen medialen Überdruss an apokalyptischen Meldungen über Kurt Beck und seine Genossen.
Überdies existiert ein historisch ziemlich verlässlicher Reflex: Sobald die SPD von außen attackiert wird, rückt sie enger zusammen. Man spürt schon jetzt, dass einige sozialdemokratische Multiplikatoren beginnen, sich zusammenzureißen, dass sie die eigene Partei trotziger verteidigen als noch in den Monaten zuvor.
Dergleichen ließ sich oft bei den Sozialdemokraten im langen Jahrhundert von Bebel bis Brandt beobachten: Außendruck schuf dort regelmäßig stärkeren Zusammenhalt, einen höheren Grad an Disziplin.
Es steht zu erwarten, dass die Sozialdemokraten in mittlerer Frist anerkennen, was aus ihnen tatsächlich geworden ist. Die Agenda-Politik Schröders markierte eine Zäsur in der Geschichte dieses Landes, vor allem in der Historie der eigenen Partei. Damit haben sich die Sozialdemokraten auf lange Zeit festgelegt. Sie setzen nunmehr auf diejenigen Schichten und Gruppen der Nation,
die für die wettbewerbsorientierten Veränderungen über die nötigen Ressourcen verfügen,die das Tempo des von den Eliten verlangten sozialen und ökonomischen Wandels mitgehen können, die entwicklungsoffene Bildungsqualifikationen besitzen, für die der Imperativ des lebenslangen Lernens in der Tat ein attraktives Versprechen auf eine interessante, abwechslungsreiche Zukunft bedeutete.
Realismus statt sentimentale Sozialismusrückschau
Man muss – wie der Verfasser – kein Freund der Agenda 2010 sein, um einzusehen, dass die neuen Sozialdemokraten des Jahres 2008 nicht mehr "alte SPD" spielen können, zumal der Regisseur jenes Stücks längst auf einer anderen Bühne die Szenerie bestimmt.
Vor allem: Für eine Kehrtwende hat sich die SPD sozial, personell, programmatisch zu sehr und unter allzu großen Schmerzen verändert. Die gewandelte SPD ist jetzt eine gemäßigt soziale, gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der gemäßigt halblinken Mitte der deutschen Gesellschaft.
Und diese beruflich angespannte, außerordentlich ergebnisorientierte Mitte erwartet keine sentimentale Sozialismusrückschau; sie will durch handfesten Realismus ihre Interessen vertreten sehen. Die Schröder- und erst recht die Post-Schröder-Partei ist zu einer politischen Agentur dieser ressourcenstarken Arbeitnehmer in der Mitte der marktförmig strukturierten Wissensgesellschaft geworden. Dagegen ist die SPD zu einer robusten antikapitalistischen Strategie, zu einem harten Konflikt mit den bürgerlichen Globalisierungseliten weder fähig noch willens. Insofern sollte sie auch erst gar nicht so tun, als könne sie das trotzdem werden.
Man muss auch – wie der Verfasser – kein Sympathisant von Schröder und Müntefering sein, um gleichwohl die eisenharte Anstrengung der beiden respektabel zu finden, die traditionelle und fatale Kluft in ihrer Partei zwischen Phrase und Praxis zu schließen, Rhetorik und Tun zu synchronisieren. Lange galt es in der SPD anders. Der frühere programmatische Traum von einer anderen, besseren, konfliktfreien Gesellschaft blamierte jede Regierungspraxis, ließ die exekutiven Anstrengungen – gleichviel ob unter Phillip Scheidemann, Hermann Müller, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder zuletzt Gerhard Schröder – als ungenügend erscheinen.
Das führte über etliche Jahrzehnte zu dem chronischen sozialdemokratischen Frust, das produzierte regelmäßig parteipolitische Neubildungen und Abspaltungen, die sich aus der sozialdemokratischen Differenz von transzendentalen Zukunftsversprechen und hiermit nicht kompatibler Alltagspolitik ihr Gründungsfutter holten.
Die SPD ist nicht mehr Gegner der bürgerlichen Gesellschaft
Die SPD hat somit den soziologischen und ideologischen Wandel hinter sich. Sie muss es sich nur noch eingestehen und sich dazu auch selbstbewusst bekennen.
Insofern war es geradezu Harakiri, sich die Zielprojektion des "Demokratischen Sozialismus" auf dem jüngsten Parteitag abermals und fast triumphalistisch ins Programm zu schreiben. Denn schließlich: Die SPD ist alles andere als eine Partei irgendeines Sozialismus. Sie glaubt nicht an historische Subjekte und geschichtliche Endziele, an den Mythos der Arbeiterklasse, an eine radikal alternative Form der Produktion, der Verteilung und Planung. Die Sozialdemokraten vertreten nicht mehr die Verdammten dieser Erde. Sie sind nicht mehr Gegner der bürgerlichen Gesellschaft.
Das könnte die SPD im Grunde ehrlicher, ja homogener machen. Und zumindest bei den jüngsten Bundestagswahlen wurde deutlich, wenngleich kaum beachtet, dass die SPD in der arbeitnehmerischen Mitte, bei Angestellten und Facharbeitern, infolgedessen besser plaziert war als die Union. Auch hatte die SPD, im Unterschied zur anderen Volkspartei, seinerzeit ein vergleichsweise ausgewogenes Verhältnis zwischen den Wählern in Ost und West, von Jung und Alt. Auch dadurch wirkte sie fraglos stärker als eine Partei der Mitte. Und sie stand im Zentrum des Parteien- und Parlamentssystems – und könnte diese Position im Prinzip problemlos halten.
Das ist der Unterschied zu den fünfziger Jahren, da die SPD als Partei der parlamentarischen Linken bei einem ähnlichen, teils gar besseren Stimmenanteil bündnispolitisch gänzlich isoliert war. Heute ist sie koalitionspolitisch – nochmals: im Prinzip! - optimal plaziert. Es ist angesichts dieser Position gleich, ob man 25 Prozent oder 30 Prozent der Stimmen bekommt. Man muss das Potential nur nutzen, darf nicht in den Jammer über bessere volksparteiliche Zeiten verfallen. Einige Prozent hinter dem großen Konkurrenten zu liegen, durch geschickte Bündnisaktivitäten dennoch den Kanzler zu stellen – das ist die Kunst von Politik, die letztlich imponiert.
Doch das müssen sich Sozialdemokraten erst einmal wieder zutrauen.
Auch hatte die SPD bei den Bundestagswahlen 2005 in allen Jahrgängen, bei einigen der letzten Regionalwahlen in mehreren Altersgruppen unterhalb des Rentenalters die Nase vorn. Bei den Jungwählern schnitt sie gar mit zwölf Prozentpunkten besser ab als die gegnerische Volkspartei. Bemerkenswert ist ihr Zuspruch weiterhin vor allem bei den jungen und mittelalten akademischen Frauen – zweifelsohne eine zentrale Gruppe der Wissensgesellschaft von morgen. In den urbanen Zentren der Republik wiesen die Sozialdemokraten bei den jüngsten nationalen Wahlen einen Vorsprung von 11,5 Prozentpunkten vor der CDU/CSU aus; im Dienstleistungsbereich übertraf die SPD die Union mit 8,1 Prozent.
Doch gerade wenn man den Weg einer Partei der neuen Mitte nach den Irrwegen der vorangegangenen Monate nun wieder konsistent und unverklemmt fortsetzen will, braucht man ein ebenso kühl-realistisches Verhältnis zu einer Partei links von sich selbst. Denn schließlich profitiert auch eine Mitte-links-Partei von einer politischen Kraft, die dem bürgerlichen Lager oder einem Rechtspopulismus die Unterschichten nicht überlässt, wie das in den Jahren 2003/04 im Westen der Republik zum Nutzen der CDU in den Bundesländern der Fall war.
Denn eine SPD der neuen Mitte ist zur Integration des unteren Fünftels der Gesellschaft nicht mehr in der Lage. Und eine Partei der neuen Mitte kann ihren Modernisierungskurs nur dann als stringentes und handlungsstarkes Projekt weiter vorantreiben, wenn sie keine sozialpaternalistischen Kompromisse macht, wenn sie nicht den Samariterton der Arbeiterwohlfahrtsfunktionäre anzuschlagen, nicht den Lafontainismus mehr parteiintern einzubinden braucht.
Die Linke als Entlastung für die SPD
Kurzum: Die Neue-Mitte-SPD kann ihre Politik nur dann zielstrebig verfolgen und politisch gegen die Union zum Erfolg führen, wenn eine intakte, kampagnenstarke, gut geführte, populistisch raffinierte Linkspartei die zurückgebliebenen und sozial frustrierten Unterschichten sammelt und eine Merkel-Westerwelle-Koalition dadurch weiterhin allein arithmetisch unmöglich macht. Eine solche Linkspartei wäre, wenn die Sozialdemokraten endlich den Mythos der "Einheit der allein sozialdemokratisch legitimierten Arbeiterbewegung" aufgeben, eine Entlastung für einen Modernisierungskurs der "Neuen Mitte". Man wäre dann nicht mehr Volkspartei. Aber darauf kommt es in einem Vielparteiensystem machtpolitisch auch nicht mehr an.
Natürlich, das alles wird nicht strikt auf eine rot-rot-grüne Mehrheit gegen Union und Freidemokraten hinauslaufen, darf es auch nicht - und das nicht nur aus Perspektive der SPD.
Auch die Linke kann nicht im raschen Tempo zum braven Koalitionspartner derjenigen werden, gegen deren Politik sie sich überhaupt erst konstituiert hat. Parteien dieser Art brauchen erfahrungsgemäß eine gewisse Schamfrist, bis sie sich dann ganz konventionell in das parlamentarische Regierungssystem hineinfügen und ebenfalls wie alle anderen die Macht im Amt anstreben.
Hat die SPD die nötige Kraft und Souveränität?
Soweit wird es 2009 noch nicht kommen. Aber allmählich wird sich das ändern, wie man in all solchen Ländern beobachten konnte, die schon seit mehreren Jahrzehnten mit linkssozialistischen Sozialstaatsparteien einer vor allem öffentlich bediensteten Mitte zu tun haben.
Die Linksparteien dort sind keineswegs dominant oder gar ausschließlich Protestformationen der Marginalisierten und Randständigen postindustrieller Gesellschaften. In den Reihen der Linkssozialisten befinden sich neben diesen Gruppen etliche Hochgebildete, gut qualifizierte Sozial- und Humandienstleister mittlerweile eher fortgeschrittenen Alters, durchaus ebenfalls überraschend viele Selbständige, auch Kümmerer und Sorger im kommunalen Umfeld.
Aufgeregte Furchtsamkeiten löst der Linkssozialismus dieser Fasson längst nicht mehr aus. Selbst in Deutschland begegnet die Mehrheit der Bevölkerung der Linken weit weniger hysterisch als Medienleute und Repräsentanten des übrigen Parteienestablishments. Gerade eine realpolitische, nüchtern operierende Partei der "neuen Mitte" sollte sich behutsam, aber unverdruckst der Koalitionsmöglichkeiten bedienen, die sich Formationen im parlamentarischen Zentrum eben nicht nur zur einen Seite hin bieten.
Nur weiß man nicht, ob die SPD derzeit dafür Kraft und Souveränität hat. Die Chance dafür jedenfalls existiert.