Karl Nolle, MdL

DER SPIEGEL 29/2008, Seite 30, 13.07.2008

"Wenn nicht wir, wer dann?"

Der ehemalige Chef des Uno-Umweltprogramms Klaus Töpfer über einen neuen Atomkonsens, den globalen Energiehunger und Deutschland als Vorreiter-Nation für eine Welt ohne Kernkraft
 
Töpfer, 69, war elf Jahre Bundesminister in der Regierung Kohl, bis der CDU-Mann 1998 als Direktor des Uno-Umweltprogramms nach Nairobi ging und die internationale Zusammenarbeit beim Klimaschutz forcierte. 2006 kehrte der Ökonom nach Deutschland zurück. Derzeit berät er unter anderem die chinesische Regierung in Fragen der Klimapolitik und hat einen Lehrstuhl für Nachhaltige Entwicklung an der Elite-Universität Tongji in Shanghai.

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SPIEGEL: Herr Töpfer, kurz vor Ihrem Amtsantritt als Bundesumweltminister sagten Sie: "Wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden." Jetzt, 21 Jahre später, bahnt sich in Deutschland ein Comeback der Atomkraft an. Enttäuscht?

Töpfer: Die Debatte kommt ja nur deswegen auf, weil der dramatisch steigende weltweite Energiehunger vor allem in Ländern wie China oder Indien die Preise auch bei uns explodieren lässt. Die Schwellenländer wollen am wirtschaftlichen Wachstum teilhaben. Das führt dazu, dass in großen Industrienationen wie Deutschland viele Menschen Angst haben, sie könnten nicht mehr Auto fahren, den Strom bezahlen und die Wohnung heizen. Ich bleibe dabei: Wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden, und wir sind endlich auf einem guten Weg zu diesem Ziel.

SPIEGEL: Aber fast alle führenden Industrienationen setzen auf Atomstrom, wie vorige Woche auf dem G-8-Gipfel zu hören war, auch deswegen, weil er so billig ist. Warum sollen deutsche Verbraucher mehr bezahlen?

Töpfer: Atomenergie ist ja nicht an sich billig. In der Herstellung ist ein Atomkraft-

werk zum Beispiel unvergleichlich teuer. Zu einem Goldesel wird die Anlage, wenn sie abgeschrieben ist. Ob der Atomstrom billig wird, hängt dann davon ab, ob der Betreiber diesen Vorteil an die Verbraucher weitergibt oder nur seine Gewinne steigern will, was gegenwärtig wohl eher der Fall ist.

SPIEGEL: RWE-Chef Jürgen Großmann denkt darüber nach, den Kunden einen günstigen Atomstromtarif anzubieten. Eine seriöse Offerte?

Töpfer: Wenn wir Gewinne aus abgeschriebenen Kernkraftwerken anders nutzen können als bisher, dann ist das ein sehr ernst zu nehmendes Argument für eine gewisse Verlängerung der Laufzeiten einiger zweifellos sicher betriebenen Kernkraftwerke. Es geht darum, der Bevölkerung die Anpassung an steigende Energiekosten - es wird nie mehr so günstig, wie es mal war - zu erleichtern und zugleich den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschleunigen.

SPIEGEL: Ihre Partei, die CDU, will das Gegenteil, Generalsekretär Pofalla glaubt an eine große Zukunft der "Ökoenergie" Atomkraft.

Töpfer: Daran glaube ich nicht. Selbst wenn es mehrere tausend Kernkraftwerke weltweit gäbe, würden sie kaum mehr als zehn Prozent des weltweiten Energiebedarfs decken. Die übergroße Menge Energie muss anders hergestellt werden. Die erforderlichen Technologien zu entwickeln, das ist hier das rationale, industriepolitische Argument.

SPIEGEL: Es ist aber doch unstrittig, dass Atomstrom weit weniger klimaschädliches CO2 produziert als Gas oder Kohle. Warum wollen ausgerechnet Sie, der ehemals oberste Uno-Umweltschützer, darauf verzichten?

Töpfer: Ich bin sehr der Überzeugung, dass die Klimaschutzziele auch mit dem Atomausstieg zu erreichen sind. Wissen Sie, die Bedeutung der Kernenergie für den Klimaschutz wird gern überschätzt. Und das Risiko, dass nukleares Material in falsche Hände geraten könnte, wird ebenso oft unterschätzt. Das ist mein Hauptargument gegen die Kernenergie: die Proliferation, die Verbreitung von waffenfähigem Nuklearmaterial.

SPIEGEL: Auch wenn noch so viele Länder neue Atomkraftwerke bauen - gegen die Bedrohung durch nuklearen Terror sollte der Atomwaffensperrvertrag schützen.

Töpfer: Richtig, aber denken Sie daran, dass wir in eine globalisierte Welt hineingehen, in der das staatliche Machtmonopol immer dünner und die Sicherheit von anderen Faktoren abhängig wird.

SPIEGEL: Das heißt?

Töpfer: Dass wir uns verdammt beeilen müssen mit den Alternativen zur Kernenergie. US-Präsident George W. Bush hat vor einem dritten Weltkrieg gewarnt, weil der Iran nach Atomwaffen strebe, Nordkorea hat intensiv mit nuklearer Bedrohung gepokert. Und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy bietet Ländern Nordafrikas, die eher instabil

sind, Kernkraftwerke an. Die Zeit läuft uns davon.

SPIEGEL: Bleibt das Problem, dass es bisher keine saubere Alternative gibt. Wie sollen die erneuerbaren Energien die Grundversorgung garantieren?

Töpfer: Es stimmt, gegenwärtig bekommt man das allein mit den erneuerbaren Energien nicht hin. Gerade deshalb benötigen wir dringend mehr Geld für die Verbesserung der Energieeffizienz, den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Erforschung sauberer Technologien.

SPIEGEL: Das predigen Sie seit Jahrzehnten. Warum sind die Fortschritte so bescheiden?

Töpfer: So bescheiden sind sie gar nicht. Es gibt bereits die Möglichkeit, in kleinem Maßstab, verschiedene erneuerbare Energien intelligent zu koppeln, so, dass sie die Grundlast übernehmen können. Auch die dezentrale Erzeugung nimmt zu. Entsprechend steigt weltweit die Nachfrage nach unseren Technologien, aber auch nach den administrativen Förderinstrumenten. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Exportschlager.

SPIEGEL: Prima, aber die großen Offshore-Windparks und CO2-freie Kohlekraftwerke sind bisher nicht viel mehr als ein Versprechen.

Atomkraft - noch lange?

Unions-Strategen und Strombosse arbeiten bereits an einem neuen Energiekonsens.

Für Kanzlerin Angela Merkel verlaufen Treffen mit den Spitzenpolitikern der führenden Industrienationen meist äußerst angenehm. Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy begrüßt sie liebevoll mit Küsschen links, Küsschen rechts, US-Präsident George W. Bush massiert ihr freundschaftlich den Nacken.

Beim G-8-Gipfel in Japan war in der vorigen Woche für die Kanzlerin alles noch viel schöner. Denn während Merkel mit Sarkozy, Bush und Co. über den Kampf gegen den Klimawandel verhandelte, erreichten die Kanzlerin aus der Heimat erfreuliche Nachrichten.

Nur noch 49 Prozent der Deutschen würden am Ausstieg aus der Atomkraft festhalten, meldete das Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid. Fast genauso viele - 48 Prozent - könnten sich inzwischen für eine längere Nutzung erwärmen. Fast zeitgleich schlug SPD-Vordenker Erhard Eppler einen neuen Atom-Deal vor: Die SPD könnte einer längeren Laufzeit einiger Kernkraftwerke zustimmen, wenn zugleich der Neubau von Meilern im Grundgesetz verboten würde (SPIEGEL 28/2008).

Merkel im Glück: Nach Jahren des Stillstands rückt eines ihrer Lieblingsthemen wieder ins Zentrum der politischen Debatten - die Zukunft der Atomkraft. Fast wöchentlich wächst bei den einstmals so atomskeptischen Deutschen angesichts steigender Energiekosten die Zustimmung zur Nuklearenergie. Zugleich beginnen die Parteien, ernsthaft über einen neuen Energiekonsens nachzudenken, mit dem der alte rot-grüne Ausstiegsbeschluss von 2001 zumindest zu einem Teil ausgehebelt werden könnte. "Da kommt etwas in Bewegung", so Merkel gegenüber Vertrauten.

Die Kanzlerin hält eine Verlängerung der Restlaufzeiten nur noch für eine Frage der Zeit. Würde sie nach der Wahl 2009 allein mit der FDP regieren, wäre der Ausstieg aus dem Ausstieg eines der wichtigsten Regierungsprojekte. Aber selbst eine rot-grüne Regierung käme in der nächsten Legislaturperiode nicht um eine Revision des Atomgesetzes herum, heißt es im Umfeld der Kanzlerin. Einige in der Union vergleichen das Thema gar mit Willy Brandts Ostpolitik: "Da rollt ein Zug, den man nicht aufhalten kann."

Allerdings ist Merkel und den anderen Atomkraft-Befürwortern klar, dass es eine Verlängerung der Laufzeiten für die noch 17 deutschen Atomkraftwerke nicht kostenlos geben wird. Längst haben deshalb die Vorarbeiten für einen "Atomkonsens II" begonnen. Es gilt, die störrischen Sozialdemokraten zu überzeugen.

Noch bleiben die Genossen hart. "Wenn die Energieversorger jüngere Atomkraftwerke länger laufen lassen wollen", sagt Parteichef Kurt Beck, "müssen ältere Meiler schneller vom Netz." Die Kanzlerin schreckt das nicht. Der Eppler-Vorstoß wird in der Union als Signal gewertet, dass die Ablehnungsfront der Genossen bröckelt. Mit Interesse wird bei der Union auch verfolgt, dass Gewerkschafter wie der IG-BCE-Chef Hubertus Schmoldt sich dafür starkmachen, dass "Deutschland wieder in die Kernforschung einsteigt".

An Ideen, wie ein neuer Atomkonsens aussehen könnte, herrscht kein Mangel. Experten in der Union feilen an Konzepten, um die Industrie zur Kasse zu bitten. Sie könnten etwa Zusatzgewinne aus den längeren Laufzeiten zu einem Teil für den Ausbau der alternativen Energien einsetzen. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Laurenz Meyer, plädiert zugleich dafür, mit dem Geld die Stromtarife zu verbilligen.

Der CDU-Energieexperte Dietrich Austermann wiederum schlägt einen Nachhaltigkeitsfonds vor. Die großen Energiekonzerne sollen einen Cent für jede Kilowattstunde zusätzlichen Atomstrom bezahlen, damit könne etwa die Wärmedämmung von Gebäuden oder die Abscheidung von CO2 aus Kohlekraftwerken gefördert werden.

"Wenigstens 60 bis 70 Prozent von den Milliardengewinnen der Stromkonzerne müssten in solch einen Fonds fließen", fordert Klaus Töpfer, Ex-Chef des Uno-Umweltprogramms, im SPIEGEL-Gespräch.

Auch den großen Stromkonzernen schwebt eine Art Fondslösung vor, mit der sie die Politik ködern wollen. Von den Gewinnen aus längeren Laufzeiten, heißt es in der Industrie, gehen ohnehin rund 40 Prozent in Form von Steuern an den Staat. Vom Rest könne ein noch auszuhandelnder Prozentsatz in einen Fonds fließen, aus dem regenerative Energien gefördert, Sozialtarife finanziert und energieintensive Industrien unterstützt werden könnten.

Die Strombosse warten auf den Ausgang der nächsten Bundestagswahl. "Das ganze Geplänkel", sagt ein hochrangiger RWE-Manager, "wird doch erst wirklich ernst, wenn es Koalitionsverhandlungen gibt und es tatsächlich darum geht, wer wirklich zu was steht."

ROLAND NELLES, WOLFGANG REUTER