Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 24.07.2008
Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen "Kurt Beck hat meine Solidarität"
"Die Partei muss die Schutzmacht der kleinen Leute sein"
sueddeutsche.de: Herr Böhrnsen, Rot-Grün galt vor zehn Jahren als politisches Erfolgsmodell in Deutschland. Nun stehen Sie hier in Bremen der derzeit einzigen rot-grünen Koalition in einem Bundesland vor. Wie regiert es sich in dieser Konstellation?
Jens Böhrnsen: Rot-Grün arbeitet sehr kollegial und konsequent zusammen. Wir haben uns drei Schwerpunkte vorgenommen. Dazu gehört, die positive wirtschaftliche Entwicklung Bremens voranzubringen, mit unseren Häfen und der Logistik, aber auch als europäischer Standort für Luft- und Raumfahrt. Wir wollen des Weiteren eine Politik des sozialen Zusammenhalts betreiben, indem wir für Kinder und Jugendliche mehr tun: Kinderbetreuung, frühkindliche Bildung, Ganztagsschulen und kostenloses Mittagessen für Kinder aus geringverdienenden Elternhäusern. Und schließlich geht es darum, die finanziellen Lebensgrundlagen des Stadtstaates Bremen zu stärken und zu sichern - Rot-Grün gibt weniger Geld aus als die große Koalition, die vorher regiert hat.
sueddeutsche.de: Die soziale Schere geht immer weiter auseinander - auch deshalb zog Die Linke in die Bremische Bürgerschaft ein. Damals nannten sie die neue Fraktion einen "zusammengewürfelten Haufen", inzwischen hat SPD-Chef Kurt Beck den Landesverbänden freie Hand für Koalitionen der Linkspartei gegeben. Eine Option für Sie?
Böhrnsen: Wenn man vor den Landtagswahlen in anderen Ländern mehr auf das Agieren der Bremer Linksfraktion geschaut hätte, dann wäre klar gewesen, dass die Partei ein Ausfall in der konkreten Politik ist. Ich habe nicht vor, mit der Linkspartei zu paktieren. Ich setze mich nicht mit der Linken in Bremen auseinander, sondern mit der sozialen Lage in der Stadt. Und ich mache eine Politik, die an den konkreten Lebensverhältnissen ansetzt.
sueddeutsche.de: Kostenlose Mittagessen für sozial Schwächere reichen nicht für eine solche Politik.
Böhrnsen: Ich sammele Erfahrungen, wenn ich montags in sozial schwierigen Stadtteilen in Kindergärten komme und man mir sagt, dass man ein Drittel mehr kochen muss, weil die Kinder am Wochenende nichts Ordentliches zu essen bekommen haben. Diese konkreten Erfahrungen führen zu meiner Politik. Das ist gerade für Sozialdemokraten eine unabdingbare Voraussetzung für eine Politik, die den Namen soziale Gerechtigkeit verdient.
sueddeutsche.de: Wie weit sind Sie damit gekommen? Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Böhrnsen: Wir wissen natürlich, dass unsere Möglichkeiten hier in Bremen begrenzt sind, aber wir kapitulieren nicht vor den Aufgaben, auch nicht vor der völlig unzureichenden Bildungsgerechtigkeit. Ich kann Ihnen die Stadtteile nennen, wo Kinder eine mehrfach geringere Chance auf einen höheren Schulabschluss haben als in anderen Vierteln - bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen. Da wirken wir dagegen. Das ist das beste Mittel gegen die Linke, die nur mit Parolen und Illusionen agiert.
» Ich will eine Politik machen, die das entlarvt, was die Linke hier anbietet. Das ist letztlich eine beliebige Partei ohne Programm, dafür mit populistischer Stimmungsmache. «
sueddeutsche.de: Dank solcher Parolen und dank des einstigen Ober-Sozialdemokraten Oskar Lafontaine hat die Linke viel Zulauf - auf Kosten der SPD. Anders als in Bremen kann Ihre Partei ohne Lafontaine-Rot keine linke Mehrheit bilden.
Böhrnsen: Sie sitzen dem Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen gegenüber. Hier regieren seit 60 Jahren Sozialdemokraten. Aus dieser Position heraus gehe ich doch nicht defensiv an die Frage heran, wie wir es mit der Linken zu halten haben! Ich will eine Politik machen, die das entlarvt, was die Linke hier anbietet. Das ist letztlich eine beliebige Partei ohne Programm, dafür mit populistischer Stimmungsmache.
sueddeutsche.de: Seit Kriegsende wurden in Bremen nur Sozialdemokraten ins Amt des Bürgermeisters gewählt - damit ist der Stadtstaat die letzte echte Bastion Ihrer Partei auf Länderebene. Können Sie das erklären?
Böhrnsen: Wir hatten auch unsere schwierigen Phasen, aber aus denen haben wir stets gelernt. Ich denke, das Geheimnis der SPD in Bremen ist, dass wir zwei Dinge verbinden: den wirtschaftlichen Erfolgskurs der Hansestadt mit einer Politik, die alle an den Früchten teilhaben lässt. Unser legendärer Bürgermeister Wilhelm Kaisen hat das als "Bündnis von Kaufmannschaft und Arbeiterschaft" beschrieben. Übersetzt in die Gegenwart heißt das: Wir brauchen Solidarität für diejenigen, die darauf angewiesen sind. Und zudem wollen viele in einer solidarischen Gesellschaft leben, ohne selbst die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen. Wir haben eine gute Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und auf der anderen Seite eine verfasste Arbeitnehmerschaft, die Arbeitnehmerkammer. Nur noch das Saarland hat so etwas.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Jens Böhrnsen die Rolle der SPD definiert und warum er seine angeschlagene Partei vor Aktionismus warnt.
sueddeutsche.de: Was können die Parteifreunde in Bund und anderen Ländern von Ihnen lernen?
Böhrnsen: Ich bin nicht so vermessen, zu sagen, dass man von uns lernen möge. Wir konzentrieren uns auf unser Land. Sozialdemokraten in Bremen hatten nie das Ziel von Machterhalt, sondern wollten Motor der Stadt sein. In den Phasen, in denen wir davon abgelassen hatten, bekamen wir in zwei Wahlen von den Bürgern die Quittung. Die SPD in Bremen hat daraus gelernt. Bei der letzten Bürgerschaftswahl lagen wir mehr als zwölf Prozentpunkte vor der Union.
sueddeutsche.de: Das ist der Erfolg von gestern. Die aktuellen Umfragen sind schlecht. Ob man will oder nicht – auch die Bremer SPD ist an den Bundestrend gekoppelt und der zeigt seit Monaten steil nach unten.
Böhrnsen: Keiner, der auf Landesebene Politik macht, macht sie völlig unabhängig davon, was die Bundespartei ausmacht und in welchem Rückenwind oder Gegenwind man agiert. Deswegen sind wir natürlich auch hochgradig daran interessiert, dass die SPD wieder den Rückenwind bekommt, den sie braucht, um die kommenden Wahlen zu bestehen.
sueddeutsche.de: Umfragen sehen die SPD bundesweit derzeit bei 25 Prozent oder weniger - macht ihnen das Sorge?
Böhrnsen: Sich zu sorgen, ist keine Politik. Das muss Ansporn sein. Wir müssen den Menschen ein Angebot machen, das sie überzeugt. Ich glaube nach wie vor, die Partei muss die Schutzmacht der kleinen Leute sein und Partnerin für diejenigen, die eine solidarische Gesellschaft wollen. Das ist die Marke der SPD. Das ist, was sie traditionell stark gemacht hat. Keine Kraft außerhalb der SPD kann solche Bündnisse organisieren.
sueddeutsche.de: Genau diese Rolle wird Ihrer Partei gleich von zwei Seiten streitig gemacht - von der Linken Lafontaines und von der Rüttgers-CDU.
Böhrnsen: Es nützt aber nichts, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und in die eine oder die andere Richtung zu schauen. Man muss sich auf sich selbst konzentrieren und auf seine Politik. Die Lösung muss ein Angebot sein, das die Menschen überzeugt und mitnimmt. Ich warne vor Aktionismus. Mittel- und langfristig wirkt nur solide Politik. Die SPD als älteste Partei Deutschlands muss einen langen Atem haben und darf sich nicht wie ein Blatt von einem Windhauch treiben lassen, der woanders erzeugt wird.
» Ein aufgescheuchter Hühnerhaufen ist ganz bestimmt nichts, was die Wähler besonders attraktiv finden. «
sueddeutsche.de: Parteichef Kurt Beck versucht seit langem, wieder Ruhe in die Partei zu bringen. Trotzdem macht die SPD weiterhin mehr Schlagzeilen durch Gerüchte als durch Sachpolitik.
Böhrnsen: Ein aufgescheuchter Hühnerhaufen ist ganz bestimmt nichts, was die Wähler besonders attraktiv finden. Die SPD muss ein Platz sein, in dem kontinuierlich über Verbesserungen der Lebensverhältnisse nachgedacht wird.
sueddeutsche.de: Also: Immer nur schön die Ruhe bewahren, auch wenn die Umfragen noch so unfreundlich sind?
Böhrnsen: Ruhe bewahren nicht im Sinne von Zurücklehnen, das sicherlich nicht, sondern um sich auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren. Mein Rat: Nicht vor jedem Mikrofon zu jeder Spekulation Stellung zu nehmen, sondern sich auf die politische Arbeit zu konzentrieren. Ich habe Politik immer als ernsthafte Angelegenheit verstanden und nicht als Event. Zu dieser Ernsthaftigkeit gehört auch, eine Perspektive aufzubauen und dann seine Spur zu ziehen - konsequent und sich nicht davon ins Bockhorn jagen lassen, was links und rechts passiert.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, inwiefern Jens Böhrnsen die Agenda 2010 "nachjustieren" möchte und warum ihn bestimmte Kritik an SPD-Chef Kurt Beck ärgert.
sueddeutsche.de: Wo sehen Sie die großen Themen für die Sozialdemokratie im Superwahljahr 2009?
Böhrnsen: Im letzten Bremer Wahlkampf habe ich auf das Thema Mindestlohn gesetzt. Wir erwarten, dass in den Firmen, in denen wir als Stadt und Land Einfluss haben, ein Mindestlohn von 7,50 Euro gezahlt wird. Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass sich die SPD an einem Wettlauf der Steuersenkungspolitik beteiligen darf. Der Staat muss handlungsfähig sein und bleiben - und das kann man den Menschen auch erklären. Wer eine bessere frühkindliche Bildung sowie eine quantitativ und qualitativ gute Ausstattung unserer Hochschulen will, der darf den Staat doch nicht ausbluten; auch bei Bildung und Ausbildung stellt sich Chancengleichheit nicht durch Marktmechanismen her.
sueddeutsche.de: Bildung taugt also zum Wahlkampfhit?
Böhrnsen: Der Anteil der Studenten aus Arbeitnehmerhaushalten ist erneut dramatisch zurückgegangen. Es wird zurückgedreht, was sich seit den sechziger Jahren in der Bildungspolitik getan hat. Auch deshalb haben wir in Bremen keine Studiengebühren. Die SPD wäre gut beraten, eine Politik zu vertreten, die Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit real erlebbar macht. Und die besteht eben nicht aus dem platten Satz: “Wir wollen Steuersenkungen“, wie ihn die CSU vertritt.
sueddeutsche.de: Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, die Politik der Agenda 2010 fortführen zu wollen. Brauchen wir weitere Sozialreformen?
Böhrnsen: Das Wort "Reform" stand früher für Verbesserung, inzwischen wird es ja oft euphemistisch gebraucht für Sozialabbau. Den brauchen wir nach meiner Überzeugung ganz und gar nicht. Wer sich wirklich mit den Lebenssituationen der Menschen beschäftigt, der kann gar nicht zur Überzeugung kommen, dass wir ein überbordender Sozialstaat seien. Der wird vielmehr feststellen, dass wir in manchen Bereichen gerade mal das Mindeste leisten. Sozialstaat ist ein Staat, der seinen Bürgern hilft, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: von den Kitas zu den Universitäten, von Schulen bis zu den Sozialversicherungen. So verstanden ist der Sozialstaat nicht auf Einschränkungen, sondern auf Ausbau angewiesen.
sueddeutsche.de: Was folgt daraus für die Reform der letzten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die Agenda 2010?
Böhrnsen: Es gibt verschiedene Stellen, an denen man die Agenda nachjustieren und weiterentwickeln sollte. Bremen hat zum Beispiel eine Bundesratsinitiative gestartet, um beim Sozialgeld die Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern zu verändern. Wir müssen beispielsweise auch darüber reden, unter welchen Bedingungen man in Rente gehen kann - und haben viele konkrete Fragen zur Zumutbarkeit bei Wohnungswechseln von Hartz-IV-Empfängern.
sueddeutsche.de: Sie haben einmal große Koalitionen als "Ausnahmefall der Demokratie" bezeichnet. Sind Sie zufrieden mit der bisherigen Arbeit von Schwarz-Rot im Bund?
Böhrnsen: Der These, dass große Koalitionen in der Lage seien, große Probleme zu lösen, habe ich noch nie angehangen. Zwei große Volksparteien stellen zwar eine große parlamentarische Mehrheit auf die Beine, aber ich bin skeptisch, ob sie auch gute und durchsetzungsfähige Lösungen finden können. Ich hoffe auf jeden Fall nicht, dass sich im Bund die Notwendigkeit ergibt, die große Koalition fortzusetzen.
sueddeutsche.de: SPD-Chef Kurt Beck ist seit Monaten auch innerparteilich in der Kritik. Die Negativ-Schlagzeilen scheinen gar nicht enden zu wollen. Können Sie erklären, warum das so gekommen ist?
Böhrnsen: Ich schätze Kurt Beck als Politiker und als Menschen - und als Freund Bremens. Wenn er unterwegs ist, dann hat er schnell einen direkten und guten Kontakt zu den Bürgern. Das ist nicht nur in Rheinland-Pfalz so.
sueddeutsche.de: Aber aus Berliner Sicht ist Mainz für manchen Provinz.
Böhrnsen: Nun komme ich ja, wenn Sie so wollen, auch aus der Provinz. Manchmal spüre ich eine intellektuelle Arroganz, die mitschwingt, wenn manche Leute mit "Hauptstadtniveau" über Kurt Beck reden. Ich finde das völlig unangebracht. Meine Solidarität hat er.
Interview: Oliver Das Gupta