Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 23.08.2008

„Deutschland braucht ein Konjunkturprogramm“ Interview mit US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz

"Die Amerikaner können sehr froh sein, dass die Europäer dumm genug waren, die faulen Hypothekenkredite aufzukaufen."
 
US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz prognostiziert, dass die weltweite Finanzkrise noch bis 2010 andauert. Europa drohe, in eine Rezession abzurutschen.

Herr Stiglitz, ist das Schlimmste überstanden bei der weltweiten Finanzkrise?

Überhaupt nicht. Die Krise dürfte sich bis Anfang 2010 hinziehen – mindestens. Und die weltweiten Verluste werden weit mehr als eine Billion Dollar betragen. Die schlechte Nachricht für die Europäer ist, dass bisher sehr viele dieser Verluste bei europäischen Kreditinstituten wie der Schweizer UBS oder bei den deutschen Landesbanken aufgelaufen sind. Die Amerikaner können sehr froh sein, dass die Europäer dumm genug waren, die faulen Hypothekenkredite aufzukaufen.

Die deutsche Regierung teilt Ihren Pessimismus nicht. Der Wirtschaftsminister rechnet nicht mit einer Rezession.

In einer globalisierten Welt gibt es keine „Entkopplung“ einzelner Volkswirtschaften. Das ist ein Mythos. Durch die Finanzkrise ist der Dollarkurs deutlich gefallen und der starke Euro ist gerade für eine Exportnation wie Deutschland eine schwere Belastung. Europa droht in eine Rezession abzurutschen.

In Deutschland ist eine hitzige Debatte entbrannt, ob es ein großes Konjunkturprogramm geben sollte. Die Regierung ist dagegen. Was empfehlen Sie?

Kanzlerin Merkel sollte so schnell wie möglich ein Konjunkturprogramm starten. Denn es dauert sechs bis 18 Monate, bis die Maßnahmen erste Resultate zeigen.

Im zweiten Quartal sank die deutsche Wirtschaftsleistung um 0,5 Prozent. Ist es nicht schon zu spät für ein Konjunkturprogramm, wenn es mindestens ein halbes Jahr dauert, bevor es wirkt?

Natürlich wäre es besser gewesen, wenn die deutsche Regierung schon früher ein Konjunkturprogramm aufgelegt hätte. Aber das ist keine Entschuldigung, jetzt gar nichts zu tun. Wie schon gesagt, dürfte die Krise bis mindestens Anfang 2010 andauern. Da würde ein Konjunkturprogramm immer noch helfen. Mein Rat: Die deutsche Politik sollte schnell handeln.

Wie sollte ein solches Konjunkturprogramm Ihrer Meinung nach aussehen?

Auf jeden Fall sind schlichte Steuererleichterungen nicht die beste Lösung. Das ist die Lehre aus dem Konjunkturprogramm in den USA, das eine Ausweitung der Krise nicht verhindern konnte.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?

Ein Konjunkturprogramm muss das Geld dorthin schleusen, wo es besonders dringend benötigt wird – und auch garantiert sofort ausgegeben wird. Man muss also die Armen unterstützen und Infrastrukturprojekte finanzieren. Von generellen Steuersenkungen hingegen profitieren vor allem die Wohlhabenden, die dazu neigen, dieses Zusatzeinkommen zu sparen. In den USA kam noch hinzu, dass viele Steuerzahler lieber ihre Schulden zurückzahlten als zu konsumieren. Das alles bringt ökonomisch nichts.

Was schlagen Sie vor, um die nächste Finanzkrise zu verhindern?

Eine der wichtigsten Lehren ist: Wir brauchen neue Kontrollgremien. Die US-Notenbank Fed repräsentiert zu sehr nur die Perspektive der Banken, die ihre Profite maximieren wollen, indem sie allzu riskante Geschäfte eingehen. Statt der Fed benötigen wir eine Art „Kommission für die Sicherheit von Finanzprodukten“. In der sind auch die potenziellen Verlierer einer Krise vertreten – also Rentenversicherer, Angestellte und Kunden.

Was noch?

Wir brauchen natürlich Finanzreformen. Es muss verboten werden, dass die Banken ihre Risiken außerhalb der Bilanzen verstecken. Zudem sollten neue Verhaltensregeln eingeführt werden. Bereits vor zehn Jahren haben wir dies in einer Studie für die Weltbank untersucht: Schwere Krisen könnten durch eine Art „Geschwindigkeitsbegrenzung“ verhindert werden – indem etwa keine Bank das Volumen ihrer Hypothekenkredite um mehr als 15 bis 20 Prozent pro Jahr erhöhen darf. Das wäre sehr einfach und sehr effektiv.

Wird es den USA gelingen, auch in zehn Jahren noch führende Wirtschaftsmacht zu bleiben?

Trotz der jetzigen Finanzkrise werden die USA wohl die wichtigste Wirtschaftsnation bleiben. Dennoch wird es zu entscheidenden Veränderungen kommen. Bisher wurde der US-Finanzmarkt als weltweit überlegen wahrgenommen. US-Banken etwa wurden von Entwicklungsländern regelmäßig als Berater angefordert. Dieses Ansehen ist nun zerstört. Oder die asiatischen Länder: Bisher haben sie ihre enormen Sparanlagen von US-Banken verwalten lassen – gegen gigantische Gebühren. Doch jetzt werden sich die Asiaten fragen, ob sie ihre Gelder nicht viel erfolgreicher selbst managen können.

Das Gespräch führte Ulrike Herrmann.