Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 30.08.2008

Sozialethiker Hengsbach: "Vollbeschäftigung ist eine Legende"

Die Wirtschaftselite ist unsozial - und glaubt, mit ein bisschen Sponsoring sei der sozialen Verantwortung genüge getan, sagt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach.
 
Die Wirtschaftselite ist unsozial - und glaubt, mit ein bisschen Sponsoring sei der sozialen Verantwortung genüge getan, sagt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht er über die Mängel des Finanzsystems und erklärt, und warum die Linkspartei so erfolgreich ist.

SPIEGEL ONLINE: Herr Hengsbach, Sie waren einer der heftigsten Kritiker der Agenda 2010. Wenn Sie jetzt bilanzieren...

Hengsbach: ...ist die Realität noch schlimmer als gedacht. Die Menschen kommen zwar leichter an eine Grundsicherung als früher - aber zugleich wird ihnen zu viel Druck gemacht. Der Entzug von Leistungen motiviert niemanden zu arbeiten.

SPIEGEL ONLINE: Die Zahl der Arbeitslosen ist aber deutlich gesunken.

Hengsbach: Das ist einer der Mythen der Agenda 2010. Die statistischen Daten zeigen erstens, dass vor allem der Aufschwung der Weltwirtschaft unseren Arbeitsmarkt entlastet hat. Zweitens führt dieser Aufschwung in erster Linie zu mehr Leiharbeit und befristeten Verträgen: Ein Drittel der neuen Jobs sind Teilzeitarbeitsplätze. Ich wäre da vorsichtig mit Euphorie.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem: Manche Politiker sprechen von möglicher Vollbeschäftigung.

Hengsbach: Darüber staune ich. Das ist eine Legende und nur propagandistisch erklärbar. Politik spielt sich offenbar oft in einem virtuellen Raum ab, der mit realen Daten nicht viel zu tun hat.

SPIEGEL ONLINE: So ähnlich lautet die Argumentation der Linkspartei.

Hengsbach: Deren Erfolg ist die Antwort auf ein echtes soziales Problem: Viele spüren die Polarisierung der Gesellschaft, das Abgleiten von Bevölkerungsteilen in prekäre Arbeitsverhältnisse, Armut, Ausgrenzung. Dass diese Entwicklung die Eliten überrascht, zeigt das eigentliche Problem.

SPIEGEL ONLINE: Aber wie wollen Sie einen größeren Sozialausgleich finanzieren? Die Sozialkassen sind doch ohnehin überlastet.

Hengsbach: Natürlich haben die Sozialkassen seit der Wiedervereinigung ein Einnahmeproblem. Aber unsere Gesellschaft ist seitdem ja nicht ärmer geworden. Der Reichtum verteilt sich nur anders. Wir müssen öffentliche Aufgaben von allen finanzieren lassen - und dass das derzeit scheitert, liegt letztlich an der schwachen Stellung der Gewerkschaften. Nehmen Sie nur deren Forderungen nach einem Mindestlohn. Die Gewerkschaften schaffen es nicht mehr, einen Tariflohn durchzusetzen, von dem Menschen leben können. Deshalb ist der Mindestlohn jetzt quasi die Reißleine.

SPIEGEL ONLINE: Tarifbindung schön und gut – dann gehen die Unternehmen eben nach Polen, in die Ukraine oder nach Asien.

Hengsbach: Keine Angst, wo es qualifizierte Fachkräfte gibt, wird die Produktion nicht verlagert. Die Autoindustrie zum Beispiel gibt Standorte keineswegs nur wegen Lohnkosten auf, sondern vor allem, weil sie neue Märkte sucht.

SPIEGEL ONLINE: Bei den geschassten Nokia-Mitarbeiter in Bochum war das anders.

Hengsbach: Natürlich verlagern Firmen im Einzelfall Standorte, wenn die gleiche Ware in einem anderen Land kostengünstiger produziert werden kann - letztlich schafft das global sogar mehr Gerechtigkeit. Aber die Lösung für uns muss sein: Alternativen suchen, Dienstleistungen statt reiner Produktionsarbeit, mehr Arbeit am Menschen. Da liegt die Zukunft. Und: die Arbeitnehmer hier entschädigen, wenn ihr Job verloren geht. Dass die Kapitaleigner den Großteil des Arbeitsprofits bekommen und die Beschäftigten und die Gesellschaft nur abgefunden werden - das widerstrebt dem Gerechtigkeitsgefühl vieler. Und wenn es doch mal Probleme gibt, soll der Staat auch noch für die Unternehmen einspringen, wie jetzt in der Bankenkrise.

SPIEGEL ONLINE: Genau diese Krise zeigt Managern doch Grenzen auf.

Hengsbach: Richtig, darauf setze ich auch. Die momentane Unfähigkeit des Finanzsystems, mit der Krise selbst fertig zu werden, könnte ein gutes Ergebnis haben - das Ende der Vorherrschaft des Shareholder Values. Wir könnten nun die gesellschaftlichen Risiken begrenzen, die durch das Finanzsystem und die Unternehmen entstehen. Die Europäer versuchen schon, die strukturelle Unverantwortlichkeit von Banken einzudämmen. Und der Druck wird größer werden, damit kein Paralleluniversum entsteht, in dem Händler völlig losgelöst von den Folgen spekulieren können.

SPIEGEL ONLINE: Sie prangern sehr generell die Wirtschaftselite an.

Hengsbach: Ich möchte keineswegs von Gier oder monströsem Versagen sprechen, aber schon klarmachen: Die Dominanz der Betriebswirtschaft und die Idee des Shareholder Value haben die Krise strukturell verursacht. Die Wirtschaftseliten haben einen Mikroblick und sind deshalb nicht empfänglich für soziale Folgen ihres Handelns. Und die Politik hat das unterstützt, zum Beispiel durch Forderungen nach Lohnzurückhaltung.

SPIEGEL ONLINE: Viele in der Wirtschaft fühlen sich durchaus für die Gesellschaft verantwortlich.

Hengsbach: Sie reden von Verantwortung, definieren das aber als eine Art Samariterverantwortung. Da geht es dann um Sponsoring oder vier Wochen Praktikum im Alters- oder Jugendheim. Natürlich ist es viel wert, dass solche Menschen lernen, dass der Homo Oeconomicus ein Konstrukt fernab des realen Lebens ist. Aber ich bin skeptisch, dass das in ihrem Herzen etwas verändert. Manager müssen nicht gleich Vorbilder sein, aber sie sind Vertreter ihres Systems. Wenn sie zum Beispiel bei Millionengehältern ihre Macht missbrauchen, schafft das Misstrauen gegenüber dem System, den Institutionen - und, das Schlimmste: gegenüber der Demokratie.

Das Gespräch führte Susanne Amann