Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 07.09.2008

UMBRUCH IN DER SPD - Abschied vom Loser-Image

Von Franz Walter
 
Wer beliebt ist, wird nominiert: Nach dieser Devise hat sich die SPD-Führung für ihren Kanzlerkandidaten entschieden. Doch auf Frank-Walter Steinmeier wartet eine schwierige Aufgabe - denn keines der strukturellen Probleme der Partei ist gelöst.

Göttingen - Erst Schröder, jetzt Steinmeier. Die lippische Arbeiterbewegung kann stolz sein. Aus ihren Reihen kommt nun abermals der Kanzlerkandidat der deutschen Sozialdemokratie. Es muss eine gute Gegend sein, dass sie Begabungen aller Art -von Politikern bis Politologen - in bemerkenswerter Fülle hervorbringt.

Natürlich wird man in den nächsten Tagen auf allen Kanälen verhandeln, ob das nun eine weise Entscheidung war oder nicht. Und ziemlich sicher werden die meisten Kommentatoren argumentieren, dass jedes andere Votum - Aufschub der Entscheidung oder gar die Inthronisation von Beck - die grauenhafte Depression der SPD, das grassierende Loser-Image lediglich verlängert, ja verschärft hätte.

So wäre es wohl in der Tat gekommen. Hätte Beck weiter auf der Vorrecht des Parteivorsitzenden für die Kanzlerkandidatur gepocht, dann wäre der Zersetzungsprozess der SPD massiv fortgeschritten. "Mannheim" - jener Parteitag, als Lafontaine den Kurt Beck in vielem so ähnlichen Rudolf Scharping rhetorisch aus dem Amt dröhnte - hätte Tag für Tag in der Luft gelegen. Der Abgeordnete Kahrs aus Hamburg hätte gewiss jederzeit Boshaftigkeiten unters Volk gebracht, die von früheren Wirtschaftsministern dankbar weiter multipliziert worden wären.

Die Entscheidung für Steinmeier besitzt daher unzweifelhaft Rationalität. Schließlich kann eine Partei nach zehn Jahren Regierungsführung bzw. -beteiligung nicht ernsthaft mit demonstrativ schlechtem Gewissen, Kleinmut oder Büßerhaltung in den Wahlkampf ziehen nach dem Motto: "Vieles war falsch, was wir in der Regierung gemacht haben; doch wollen wir wieder den Kanzler stellen." So etwa aber trat die Beck-SPD in den vergangenen Monaten auf.

Die Sozialdemokraten haben sich nach dem Abgang von Lafontaine im Frühjahr 1999 für eine neue Politik der Märkte und der Eingriffe in die sozialstaatliche Verfasstheit entschieden. Das verlief für die Partei unter großen Opfern, schlimmen Verlusten von Mitgliedern, Wählern, Mandaten.

Die Entscheidung für Steinmeier ist folgerichtig

Am Ende hatte sich die SPD in vielerlei Hinsicht gewandelt. Sie ist 2008 nicht mehr so wie 1998. Aber dann macht es auch keinen Sinn, so zu tun, als könne man demnächst wieder die "alte SPD" werden. Eine Chance hat die SPD nur, wenn sie sich selbstbewusst dazu bekennt, was sie innen, in der Partei, und außen, in der Gesellschaft, verändert hat, wenn sie halbwegs aufrecht, gleichsam erhobenen Hauptes in den Wahlkampf marschiert.

Und insofern ist die Entscheidung für einen Kanzlerkandidaten Steinmeier folgerichtig. Man geht nun mit dem Architekten der Schröder-Politik und nicht mit einem lediglich halben Unterstützer oder Dreiviertelkritiker der eigenen Agendapolitik in die Auseinandersetzungen des Jahres 2009.

Für Steinmeier spricht überdies, dass er im Berliner Areal der Mächtigen und Meinungsfreudigen ganz zu Hause ist. Derzeit zeigt sich, dass die Berliner Politkaste aus Medienmenschen, Think-Tank-Angebern, Lobbyisten, Referenten, Abgeordneten alle Figuren jenseits ihres eigenen Milieus mit Aplomb abstößt. Es war ja nicht nur Beck allein; auch viele andere Ministerpräsidenten bekommen über Nacht Ausschlag, wenn sie wissen, dass es am Morgen nach Berlin geht. Steinmeier aber kennt all die, die über ihn schreiben und mit denen er täglich über Bande zu spielen hat. Er ist Teil dieses hauptstädtischen Justemilieus. Den Obama kann er zwar nicht spielen. Doch in der bedauerlichen Rolle des Kurt Beck muss er ebenfalls nicht auf die Bühne.

So weit, so gut. Doch: Steinmeiers Renommee beruht auf seinen einst im Kanzleramt bewiesenen Vermittlungsfähigkeiten, seinem Koordinationstalent, seiner Vernetzungskompetenz. Indes: Im Blick auf die Führung seiner eigenen Partei war von solchen Fertigkeiten in den letzten Monaten partout nichts zu erkennen.

Steinmeier siedelte schließlich nicht unerreichbar auf einer einsamen Insel, als sich über Monate all die Irrungen und Wirrungen der SPD heftig vollzogen. Er war stellvertretender Bundesvorsitzender seiner Partei. Doch stand er während des innerparteilichen Gezerres oft merkwürdig unentschlossen im Off.

Die Entscheidung für die Kanzlerkandidatur ist diffus geraten

Noch verheerender war es, dass er sich in überschäumender Partylaune am geselligen Abend des Hamburger Parteitages im letzten Herbst den sogenannten Netzwerkern, die gerade mit den "Seeheimern" eine organisierte Parteirechte bildeten, zuwandte. Nur im Führungszentrum der Partei, wo der Kandidat für das Kanzleramt füglich hingehört, sah man Steinmeier nicht. Dort vereinsamte der arme Beck; und die SPD stand fortwährend ohne ein strategisch dicht konzentriertes und durchsetzungsfähiges Führungszentrum da. Das Scheitern und der Rücktritt Becks hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Steinmeier und die anderen Berliner Minister ihn allein im Regen stehen ließen.

In dieser Unordnung ist dann auch die Entscheidung für die Kanzlerkandidatur entsprechend diffus geraten. Irgendwo in kleinen Zirkelchen und undurchsichtigen Ründchen wurde darüber hin- und herverhandelt.

Man weiß nicht, wer diese Kreise in den Dunkelräumen der Politik legitimiert hat; man weiß nicht einmal, wer welchen Cliquen warum und mit wie viel Bedeutung angehört. Jedenfalls wissen es nicht die Mitglieder in der Fläche, auch nicht das Gros der Mandatare in den Parlamenten. Die SPD lebte einst von der Aura des "Mehr Demokratie wagen". Die SPD des Jahres 2008 wagt gar nichts, am wenigsten jedenfalls Demokratie.

Was, so fragt man sich, sind um Bebels oder Brandts Willen eigentlich die Kriterien für die Auswahl sozialdemokratischer Parteivorsitzender oder Kanzlerkandidaten? Offenkundig: allein die Demoskopie. Wer gerade beliebt ist, wird Kandidat oder Chef. Damit aber ist die Souveränität als Partei mit eigener Willensbildung und eigenem Stolz auch schon aufgegeben. Man unterwirft sich den Meinungsbarometern. Und weil das so ist, bedeutet jede Stimmungsschwankung zugleich ein Menetekel für die stimmungsabhängige Partei.

Warum die Wahl des Kanzlerkandidaten gar nicht so entscheidend ist

Dabei kommt es auf Beliebtheitswerte dieser oder jener Repräsentanten gar nicht an.

Alle Welt redet über einen Kanzlerkandidaten in Deutschland, als sei er ein Anwärter auf das Präsidentschaftsamt in Frankreich oder den USA, wo durch den plebiszitär begründeten Wahlakt die Popularität des Einzelnen vorne wirklich bedeutsam ist.

In Deutschland aber wählt man Parteien, die koalitionsgeeignet sein müssen. Und 1969 wie 1976 oder 1980 lagen auch Willy Brandt und Helmut Schmidt mit ihren Parteien nicht vor der CDU/CSU - und trotzdem wurden sie Kanzler. Denn sie waren koalitionsfähiger als damals Kiesinger, Kohl und insbesondere Franz-Josef Strauß.

Das deutsche Regierungssystem prämiert Koalitionsfähigkeit, nicht Spitzenkandidatencharisma. Daher wäre die richtige Frage in der Kandidatendebatte der SPD gewesen: Wer schöpft das Koalitionspotential am besten aus? Was will Steinmeier überhaupt für eine Koalition? Strebt er am Ende gar nicht die Kanzlerschaft in einer komplexen Parteienallianz an, sondern freut sich vielmehr auf eine weitere Legislaturperiode als Außenminister in einem Bündnis mit der Union? Ist darüber je diskutiert worden in der SPD? Natürlich: nein.

Jede Fehlentscheidung fällt von nun an auf Steinmeier

Insofern hat sich die SPD durch die vorzeitige Kandidatennomination auch keine Luft verschafft. Denn alle, wirklich alle tief sitzenden strukturellen Problemen sind unverändert präsent: Das ungeklärte Verhältnis zur Linken, die Regierungsbildung in Hessen, die Frage nach Fortsetzung oder Abbruch der Agendapolitik, der eklatante Machtverlust in den Regionen, das abgrundtiefe Misstrauen in den innerparteilichen Machtzentren untereinander.

Fortan wird dann nicht mehr allein nach den Fehlern des Parteivorsitzenden gefragt, sondern viel stärker nach dem Tun oder den Unterlassungen des Kandidaten, der doch die Kanzlerin herausfordern soll.

Jede Disziplinlosigkeit, jede Intrige, jede Fehlentscheidung der Sozialdemokraten fällt von nun an auf Steinmeier. Und dieser hat in den nächsten Wochen auch mühsam zu klären, wie er das repräsentieren will, was die SPD seit ihrem Hamburger Programmparteitag alles beschlossen hat. Distanziert er sich davon, dann hat er Frau Nahles und ihren Anhang im Nacken. Bekennt er sich zur Politik der Reform der Schröder-Reformen, dann enttäuscht er seine Fans in der Partei und den Medien. Zwischen Skylla und Charybdis ist wenig Raum.

Einst war es die Disziplin, welche die Sozialdemokratie auszeichnete. Die Geschlossenheit der Parteimitglieder rührte aus einer gemeinsamen unterprivilegierten Herkunft, aus dem Glauben an eine "neue Zeit". Dies trug in der Geschichte der Sozialdemokratie bis in die achtziger Jahre alle Vorsitzenden, selbst wenn sie schwach waren, wie etwa Erich Ollenhauer. Aber seither ist es damit vorbei.

Nun also Münte.

Man wird in den nächsten Tagen wieder in etlichen Tageszeitungen dieser Republik Elogen auf ihn lesen können. Man wird darin an Parteitagsauftritte erinnern, mit denen er die Delegierten durch knappe, aber knackige Ansprachen mitriss. Man wird ihn erneut als den letzten großen Mann der klassischen Sozialdemokratie bezeichnen und edeln. Dabei: So rosig ist seine Bilanz keineswegs. Als Müntefering den Parteivorsitz in NRW abgab, da ließ er in dieser langjährig roten Hochburg ein ziemliches Trümmerfeld zurück, schuf so den Boden für den christdemokratischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers. In Münteferings Zeit als Bundesvorsitzender der SPD fielen dramatische Mitgliederverluste und verheerende Wahlniederlagen in den Bundesländern von historischer Singularität. Als Generalsekretär seiner Partei stieß er im Jahr 2000 ehrgeizige Organisationsreformen an – und brachte doch nichts davon erfolgreich zu Ende. Er wollte damals eine Partei, die sich wieder neu und stärker mit der Gesellschaft vernetzte. Aber am Ende war die SPD in den Lebenswelten der Republik zu einem Fremdkörper geworden wie wohl zuvor noch nie in ihrer langen Geschichte.

Vor allem: War er wirklich der große Stratege, der alles vom Ende her dachte, der virtuos mit Bande spielte, seine Gegner in Zwickmühlen manövrierte? Ging es ihm tatsächlich stets einzig um "die Sache"? Denn wer wüsste schon zu sagen, was die Sache des Franz Müntefering eigentlich war? Welche Vorstellung von Ökologie trieb ihn? Wie sahen seine außenpolitischen Maßstäbe aus? Wie stellte er sich soziale Demokratie vor, wie betriebliche Demokratie, wie wichtig waren ihm selbstbewusste Bürger, beteiligungsfreudige Arbeitnehmer – in Zeiten vornHartz IV? Präzise Vorstellungen darüber hat er jedenfalls nie entwickelt.

Was Müntefering auszeichnete war sein unsentimentales, kühles Verhältnis zur politischen Macht. Darin war er Bruder im Geiste mit Gerhard Schröder. Und daher waren die beiden im deutschen Bürgertum so gefürchtet. Zuvor hatten Sozialdemokraten meist Scheu vor der Macht, agierten unsicher, wirkten den harten Konservativen von Bismarck über Adenauer bis Kohl stets chronisch unterlegen. Schröder und Müntefering markierten hier eine Zäsur, sie gingen im Kampf um die Macht stets verwegen vor, kannten wenig Skrupel, legten listig den Gegner Fallstricke, ließen sich von einem hochentwickelten Gefahreninstinkt leiten.

Darin liegt die Hoffnung für die Sozialdemokraten, aus einem abermals schwierigen Wahlkampf ein weiteres Mal glimpflich herauszukommen. Doch die Probleme werden bleiben. Nicht trotz Müntefering, sondern gerade wegen seiner.