Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 08.09.2008

Steinmeier und Müntefering: Die Schröderianer erobern die SPD zurück

 
Es ist die späte Rache der Schröderianer: Kurt Beck ist weg, Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier sind die neuen Mächtigen der SPD. Becks Protest gegen den Putsch verhallt - die Nachfolger blicken bereits nach vorn. Die SPD soll mit einer Reformbotschaft in den Wahlkampf ziehen.

Werder - Er ist der einzige, der lächelt. Als erster Vertreter der SPD-Spitze läuft Frank-Walter Steinmeier an diesem Sonntagmittag auf die weißen Säulen des Hotels am brandenburgischen Schwielowsee zu. Dahinter folgt ein regelrechter Trauermarsch: Parteivize Peer Steinbrück und Fraktionschef Peter Struck gucken bissig, Generalsekretär Hubertus Heil hat seine Stirn in tiefe Falten gelegt. Das Schlusslicht bildet Parteivize Andrea Nahles. Sie ist leichenblass. Beck selbst schleicht sich wenige Minuten später von hinten an den Tagungsort heran - fern von den Kameras.


Die SPD hat mal wieder in den Abgrund geblickt.

"Event Center" steht an dem weißen Haus im amerikanischen Landhausstil, das sich am Seeufer erhebt. Ereignisreicher ist es in dieser Idylle wohl selten zugegangen, als an diesem Tag, an dem die roten SPD-Fahnen neben dem Eingang wehen. Seit dem Morgen tagen hinter verhängten Fenstern das Parteipräsidium, der Fraktionsvorstand sowie die SPD-Ministerpräsidenten. Offiziell sind sie gekommen, um Eckpunkte für das Regierungsprogramm 2009 zu beschließen. Seit Samstagabend wissen sie dank Meldungen des SPIEGEL und anderer Medien, dass sie obendrein Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten küren sollen.

Darum überschlagen sich nun die Ereignisse. Die versammelten Genossen warten an diesem Morgen zunächst vergebens auf ihre Anführer. Peter Struck fährt zwar nichtsahnend auf seinem Motorrad vor, muss aber gleich in Motorradkluft in einen Wagen umsteigen, der ihn zum einige Kilometer entfernten Landgasthaus Ferch bringt. Dort warten bereits Parteichef Kurt Beck, seine drei Stellvertreter und der Generalsekretär. Bei dem konspirativ anmutenden Treffen, das in letzter Minute angesetzt wurde, lässt Kurt Beck die Bombe platzen: Er tritt vom Parteivorsitz zurück.

Die anderen fünf sind überrascht und mehr oder weniger schockiert. Einige versuchen, Beck davon abzubringen - doch vergeblich. Beck erklärt, was er später in einer ungewöhnlich scharfen Pressemitteilung auch öffentlich machen wird: Der gemeinsame Plan, die Kanzlerkandidatur Steinmeiers zu verkünden, sei durch die Durchstecherei an den SPIEGEL "durchkreuzt" worden. "Aufgrund gezielter Falschinformationen haben die Medien einen völlig anderen Ablauf meiner Entscheidung dargestellt." Damit fehle ihm nun die notwendige Autorität für den Parteivorsitz. Drei Stunden reden die sechs über die Zukunft der SPD. Auf Vorschlag Steinmeiers beschließen sie, Franz Müntefering als Parteichef zurückzuholen. Er wird in Bonn angerufen und sagt zu.

Beck fühlt sich in seiner Ehre verletzt

Beck fühlt sich hintergangen. Am Donnerstagabend hatte er noch mit Müntefering und Steinmeier zusammengesessen und Stillschweigen über den Plan vereinbart, Steinmeier am Sonntag zum Kanzlerkandidaten zu küren. Dann musste er am Samstagabend auf SPIEGEL ONLINE lesen, dass Steinmeier ihn zu der Entscheidung gedrängt habe. Diese Interpretation will Beck nicht stehen lassen. Schon vor zwei Wochen habe er Steinmeier die Kandidatur angetragen, erklärt er den Klausurteilnehmern im "Event Center". Mit dem anderen Spin wolle man ihn offensichtlich dazu bringen, hinter Steinmeier und Müntefering künftig die dritte Rolle zu spielen. Das sei gegen seine Würde.

Steinmeier und Müntefering haben ihn eiskalt weggeputscht - darauf laufen Becks Worte hinaus. Nach seiner zehnminütigen Erklärung verschwindet er so plötzlich, wie er gekommen ist. Die Tagung wird erstmal unterbrochen, die Nachricht muss sacken. In der anschließenden Aussprache werden auch Zweifel an der Entscheidung laut, Müntefering zurückzurufen, doch niemand wagt den Aufstand gegen die neuen Mächtigen.

Zwei Enthaltungen bei Abstimmung über Müntefering

Das SPD-Präsidium beschließt einstimmig, Steinmeier zum Kanzlerkandidaten zu nominieren. Nicht ganz so einig ist man sich bei der Abstimmung über Müntefering als Parteichef: Zwei führende Parteilinke, Ralf Stegner und Andrea Ypsilanti, enthalten sich. Bis Müntefering auf einem Sonderparteitag gewählt werden kann, soll Steinmeier den Parteivorsitz kommissarisch übernehmen.

Beck ist der fünfte Parteichef in fünf Jahren, der den Job hinschmeißt. Mit Müntefering wird nun einer reaktiviert, der selbst bereits hingeworfen hatte und obendrein 68 Jahre alt ist. Ein Aufbruchsignal sieht anders aus.

Dennoch stellt Frank-Walter Steinmeier sich nach der Sitzung ans Rednerpult und redet selbstbewusst davon, dass man sich einig sei, einen "wirklichen Neuanfang" zu machen. Die "Kämpfe von Flügeln und Personen" würden nun beendet, die Partei sei sich ihrer Verantwortung für das Land bewusst. Hinter ihm auf dem Schwielowsee fahren die Segelboote vorbei.

Es ist der Auftritt eines lupenreinen Machtpolitikers. Zu seinem eigenen Beitrag zu Becks Rücktritt verliert Steinmeier kein Wort. Vielleicht hatte er wirklich geglaubt, Beck könne über den Vertrauensbruch hinwegsehen. Dennoch klingt es heuchlerisch, als er sagt, der Tag sei anders verlaufen, als geplant. Der Verlierer wird mit den üblichen Trostworten bedacht: Beck habe "die Partei verstanden", alle seien schockiert, sagt Steinmeier. Aber dann verspricht er unsentimental, man werde sich nun "unterhaken" und nach vorn schauen. In 385 Tagen sei Bundestagswahl, und er trete nicht an, um zu verlieren.

Steinmeier deutet auch an, welche Botschaft er im Wahlkampf verbreiten will. Müntefering verkörpere "eine selbstbewusste, kämpferische Sozialdemokratie". Der Subtext lautet: Beck nicht. Kämpferisch und stolz soll die SPD wieder sein und sich nicht mehr ihrer Erfolge in der Regierung schämen.

Verhältnis zwischen Beck und Steinmeier zerrüttet

Das Verhältnis zwischen Beck und Steinmeier darf fortan als zerrüttet gelten - so wie es zwischen Beck und Müntefering bereits war. Steinmeier und Müntefering setzen darauf, dass der Wahlkampf die Partei schon zusammenschweißen wird. Was bleibt ihr anderes übrig, als sich ein Jahr vor der Bundestagswahl hinter den beiden Reformern zu scharen? Doch dürfte es vielen schwer fallen, sich für dieses Führungsduo zu begeistern. Denn beide verkörpern die Projekte, die an der SPD-Basis am unbeliebtesten sind: Die Agenda 2010 und die Große Koalition, der sie als Vizekanzler dienen und gedient haben. Obendrein müssen sie nun mit dem Vorwurf leben, Beck gestürzt zu haben.

Das Wochenende wird als die späte Rache der Schröderianer in die SPD-Annalen eingehen. Unter Beck war der Reformerflügel zunehmend in die Defensive geraten. Die Teilabwicklung der Agenda 2010, die Anbändelung mit der Linkspartei, die Nominierung von Gesine Schwan - immer zwang Beck die murrenden Steinbrücks und Steinmeiers auf Linie. Nun haben sie wieder freie Hand.

Doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Widerstand stoßen. Schon bald dürften die ersten Klagen über Münteferings autoritären Führungsstil anheben. Als er vor drei Jahren zurücktrat, folgte auf den ersten Schock recht bald Erleichterung. Die Nachfolger Platzeck und Beck erwiesen sich als viel kommunikativer. Die Rückkehr des Zuchtmeisters dürfte bei vielen Spitzengenossen zwiespältige Gefühle wecken - nicht zuletzt bei den inzwischen zu Parteivize und Generalsekretär aufgestiegenen Nachwuchsleuten Andrea Nahles und Hubertus Heil. Beide spielten damals eine prominente Rolle bei der Abstimmung im Parteivorstand, die zu Münteferings Rücktritt führte. Jetzt müssen sie eng mit Müntefering zusammenarbeiten.

Jenseits der persönlichen Animositäten werden auch die Flügelkämpfe in der Partei über den richtigen Kurs nach Becks Abgang nicht aufhören. Im Gegenteil: Sie könnten mit größerer Heftigkeit aufbrechen. Bei allen offensichtlichen Führungsmängeln hatte Beck immerhin ausgleichend gewirkt. Er hatte es geschafft, als Parteichef über den Flügeln zu stehen. Müntefering und Steinmeier hingegen sind fest in einem Lager verortet - für die Parteilinke ein Bedeutungsverlust, den sie wohl nicht auf Dauer hinnehmen wird.

Es wirkt daher etwas vorschnell, als Fraktionsvize Klaas Hübner, ein bekennender Schröderianer, nach den Ereignissen im "Event Center" verkündet: "Es ist ein guter Tag für die SPD."
Von Carsten Volkery