Karl Nolle, MdL

spiegel online, 12.09.2008

Schizo-Partei Deutschlands

SPD Runde bei Illner
 
Die SPD ist zwei Parteien. Wer daran noch zweifelte, bei Maybrit Illner wurde es bewiesen: Die eine Hälfte träumt von Lafontainismus, die andere von Schröderei. Linke dieses Landes, vereinigt Euch doch einfach - dann hättet Ihr wieder 40 Prozent!

Manchmal liefern politische Talkshows ja doch Erkenntnisse. Man muss sie sich nur mühsam selber aus der oft chaotischen, blubbernd-zischenden Versuchsanordnung herausdestillieren.

An diesem Donnerstagabend war es wieder soweit. "Starke Typen statt starkem Programm – SPD zurück zur 'Basta'-Politik?" fragte Maybrit Illner ihre Gesprächsrunde im ZDF, die diesmal eine sozialdemokratische Familienzusammenführung der besonderen Art war.

Doch im Laufe der dramatischen Konfrontation entwickelte die gruppenpsychologische Familienaufstellung ihre charakteristische Eigendynamik. Sie beantwortete eine Frage, die gar nicht auf der Agenda stand. "So oder so, die Erde wird rot" sang einst Wolf Biermann an der DDR-Weltgitarre – seit gestern sind wir einen Schritt weiter: "Rot-rot" heißt offensichtlich die drängende Perspektive eines Großteils der Rest-SPD. Ganz gleich, wie lang und quälend der Weg dahin sein wird für die früher so stolze Partei Lassalles und Bebels. Ganz gleich, wie viele Worte noch gemacht werden, um den Sachverhalt zu bestreiten, zu beschönigen oder zu vernebeln.

Am deutlichsten sprach Rudolf Dreßler, ehedem SPD-Sozialexperte, Parlamentarischer Staatssekretär und ein paar Jahre lang deutscher Botschafter in Israel, die Sache aus. Inhaltlich war er weitgehend einig mit Ralf Stegner, dem SPD-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein. Beide brodelten, sobald es um die ominöse "Agenda 2010", Hartz IV und andere soziale Grausamkeiten ging, die der sozialdemokratische Parteikörper vor fünf Jahren schlucken musste.

Auf Hartz IV-Niveau

Verdaut hat dieser die Schrödersche Brachialaktion bis heute nicht, und so kommt die schmerzhafte Sache immer wieder hoch.

Sie berührt zweifellos das, was Rudolf Dreßler mehrfach die "Identität" der Partei nannte, das Gefühl der sozialen Gerechtigkeit. Fast ein Brechtscher Topos.

Immer und immer wieder kann sich das "sozialdemokratische Urgestein" (Illner) über die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I erregen. Immer noch bringt er, wie Heiner Geißler und andere seiner Generation, das Beispiel des Arbeiters, der nach 35 Berufsjahren im Fall der Arbeitslosigkeit schon nach einem oder anderthalb Jahren auf das Niveau von Hartz IV gerate.

Dass ein derart langes, kontinuierliches und lineares Berufsleben heutzutage eher unrealistisch ist, stört ihn nicht. Auch die Verringerung der Zahl der Arbeitslosen um zwei Millionen seit 2005 ist kein Argument für ihn - da erstens die Statistik falsch sei (in Wirklichkeit müsse man von sechs Millionen Arbeitslosen sprechen!) und zweitens viele Jobs entstanden seien, von denen allein niemand leben könne, Leiharbeit inklusive.

Flügelkämpfe und Erosionsprozesse

Es geht ums Prinzip, ums Gefühl, um die Tradition.

Wenn all das derart flagrant verletzt werde, sagt Dreßler, "dann löst das die SPD als sozialdemokratische Partei auf". Besser hätte es auch Oskar Lafontaine nicht formulieren können.

Deshalb setzte Dreßler ganz offen auf den rot-roten Kurs von Andrea Ypsilanti in Hessen ebenso wie auf die Möglichkeit rot-roter Konstellationen in Thüringen, im Saarland und in Nordrhein-Westfalen: "Wenn's klappt, kommt der große Schub."

Wenn nicht, kommt die Große Koalition.

Wir aber, Zeugen der Zeitgeschichte, können wie Goethe bei der Kanonade von Valmy sagen, wir sind dabei gewesen.

Dabei ist der Erosionsprozess der einstigen Volks- und Arbeiterpartei nicht zuerst eine Frage ihrer Flügelkämpfe, die es immer gab. Er ist eine Frage des politischen Kerns der Partei und ihrer Unfähigkeit, ihn neu und überzeugend zu bestimmen. Auch Johannes Kahrs, Vertreter des "rechten", gerne auch: "pragmatischen" Seeheimer Kreises in der SPD, fiel dazu in der Runde leider nicht viel ein.

"Heilsbringer" Müntefering und Steinmeier

"Eine positive Stimmung" sei seit dem Weggang von Kurt Beck spürbar, und mit dem Führungsduo Steinmeier/Müntefering könne man nun endlich wieder nach vorne schauen und den politischen Gegner ins Visier nehmen. Tragisch nur, dass der zwei Stühle weiter sitzt und der eigenen Partei angehört.

Die angeblichen "Heilsbringer" Müntefering und Steinmeier seien doch für die akute Misere der SPD persönlich verantwortlich gewesen, empört sich Dreßler. Und Ralf Stegner, der kühle Linke aus dem Norden, assistiert temperamentvoll: "Diesen neoliberalen Quark, das will die Mehrheit der Partei nicht!"

Dumm nur, dass dieser neoliberale Quark sieben Jahre rot-grüne Regierungspolitik bestimmt hat.

Um aus dem Quark zu kommen, bedarf es offenbar wirklich heilsbringerischer Fähigkeiten. Brigitte Seebacher-Brandt, die Witwe von Willy Brandt, verwendete jedenfalls eine andere, ziemlich düstere Metapher: "Wir erleben die letzten Zuckungen eines sterbenden Körpers in langem Siechtum", diagnostizierte sie. Was zu heftigen Zuckungen bei Ralf Stegner führte.

"Sie haben aus der DDR nichts gelernt!"

Doch ganz hat auch sie die Hoffnung auf eine sozialdemokratische Wiedergeburt offenbar noch nicht aufgegeben, denn immer wieder stellte sie die Frage: "Quo vadis SPD? Was gilt denn nun? Welche Politik ist denn richtig unter den Bedingungen der Globalisierung?"

Offen müsse man zum Beispiel darüber sprechen, dass es den guten alten Sozialstaat, der zugleich ein vor den Wirren der Welt geschützter Nationalstaat gewesen sei, in Zukunft kaum mehr geben könne. Soziale Gerechtigkeit im gut sozialdemokratischen Sinne werde es also in jedem Fall schwer haben.

Das ließ Ralf Stegner nicht still sitzen, und am Ende des Scharmützels kassierte er noch einen Ordnungsruf von Frau Seebacher: "Sie haben aus der DDR nichts gelernt!"

Vielleicht sollte die wundgescheuerte SPD aber wenigstens aus der eigenen Geschichte lernen, die eine grandiose Erfolgsgeschichte ist. Auch darauf wies Brigitte Seebacher-Brandt hin: Die alte Klassengesellschaft, in der die SPD gegründet wurde und groß geworden ist, gibt es nicht mehr. Das ehemals unterdrückte, ausgebeutete und politisch verfemte Proletariat ist aktiver Teil der demokratischen Gesellschaft geworden. Dass in Deutschland die Pendlerpauschale zum großen Thema werden kann, sagt fast alles darüber.

"Meer aus Krokodilstränen"

Der Publizist Hajo Schumacher fasste zusammen: Mehr denn je bestehe die SPD aus zwei Parteien, und angesichts des "Meers aus Krokodilstränen", der großen Heuchelei und Desorientierung nach Kurt Becks unrühmlichem Abgang gelte es festzuhalten, dass die Sozialdemokratie in ganz Europa in der Krise sei.

Ganz pragmatisch, so, wie es nur ein außen stehender Beobachter kann, prophezeite er die Existenz zweier, im deutschen Parteienspektrum "linker" Parteien: eine Oskar-Lafontaine-20-plus-X-Linkspartei und eine ähnlich starke Rest-SPD. Macht zusammen 40 Prozent. So wie früher, in den guten alten Zeiten, als der Fortschritt noch eine Schnecke war und "Willy wählen" Pflicht.

Heiner Geißler hat es jüngst als erster ausgesprochen: Dann geht doch gleich zusammen!

Maybrit Illner, die eine hellwache psychologische Gruppenleiterin war, hatte am Ende auch nur eine Weisheit parat, die aus der Küche kommt: "Man nagelt nicht zweimal den selben Topf an die Wand." Oder so.