Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 04.10.2008

Hessen links vorn

Leitartikel von Stephan Hebel
 
Wenn Samstag alles nach Plan geht, dann wird es endlich ernst. Wenn der Parteitag der Hessen-SPD Andrea Ypsilanti folgt, dann läuft der Countdown. Dann rückt näher, was die einen Wende und die anderen Wortbruch nennen. Letztere, angeführt vom Wahrheits-Experten Roland Koch, werden noch einmal die Verdammungs-Maschine anwerfen. Die rot-grün-roten Partner in spe werden endlich miteinander über das reden, wofür sie eigentlich da sind: über die Inhalte ihrer Politik.

Es ist in den vergangenen Monaten zum fast täglichen Reflex geworden, die "Argumente" für und gegen Rot-Grün-Rot in der plattest denkbaren Form auszutauschen. Versuchen wir sie ein wenig zu differenzieren, könnte das bei der Meinungsbildung womöglich helfen. Wie also steht es um den Wortbruch? Und was ist dran an der Behauptung des Ypsilanti-Lagers, das Experiment sei trotz allem legitim und vielleicht sogar notwendig?

Thema Wortbruch: Man könnte es sich einfach machen, indem man Roland Koch das Recht abspricht, den Vorwurf zu erheben. Tatsächlich liegt der größte Skandal womöglich darin, dass sich ein Mann, der der Macht schon mehrmals Wahrheit und politischen Anstand opferte, nun praktisch widerstandslos als Wahrer der Moral in der Politik aufspielen kann. Selten wohl hat eine bis ins SPD-Lager hinein benebelte Öffentlichkeit einem Bock so dämlich beim Gärtnern zugeschaut.

Aber die Tatsache, dass der Falsche den Vorwurf des Wortbruchs erhebt, befreit niemanden von der Pflicht, sich damit auseinanderzusetzen. Den Fehler, ein Bündnis mit den Linken vor der Wahl auszuschließen, hat Ypsilanti ja tatsächlich gemacht. Sie hat auf der anderen Seite nicht unrecht, wenn sie sich in einem Dilemma sieht: entweder von diesem Nein abzurücken oder aber die inhaltlichen Wahlversprechen zu brechen, die sie nur als Ministerpräsidentin mit rot-grün-roter Mehrheit halten kann.

Doch das reicht nicht. Ypsilanti sollte heute auch sehr genau erklären, warum sie nicht den Ausweg der Neuwahlen wagt. Dass sie die leicht verlieren könnte, ist für sich allein ein schlechtes Argument. Es riecht nach Machterwerb als Selbstzweck und damit nach Koch. Es wird nur dann besser, wenn man es um die größere, strategische Dimension ergänzt. Und zwar in aller Ruhe und möglichst ohne Rücksicht auf diejenigen, die die linke Mehrheit aus ideologisch verbrämtem Eigeninteresse mit einem Tabu zu belegen versuchen.

Diese größere Dimension geht weit über Hessen hinaus. Sie hat etwas mit der veränderten Parteienlandschaft zu tun. Die CDU weiß sehr wohl, dass sie die SPD auf absehbare Zeit von der Kanzlerschaft wird ausschließen können, wenn so etwas wie ein linkes Lager nicht regierungsfähig wird. Deshalb macht sie auf moralisch: Sie will vor allem die Möglichkeit tabuisieren, dass ein womöglich erfolgreiches hessisches Experiment die Türen für den Bund öffnet, indem es die Linke als verträglichen Spross der Sozialdemokratie entdämonisiert.

Dann nämlich wäre - nicht für 2009, aber vielleicht vier Jahre später - die "Gefahr" einer echten politischen Alternative auch im Bund real. Das ist es, was die Konservativen fürchten. Aber es ist eben auch das, woraus das hessische Linksbündnis seine Legitimation bezieht. Andrea Ypsilanti kann und sollte es wagen, weil Deutschland die anderen Mehrheiten für andere, bessere Inhalte braucht.

Auf den Bund bezogen, am Beispiel der Agenda 2010: So weitgehend unsozial und für Hunderttausende demütigend ihre Ergebnisse sind - die Idee, Menschen aus der Sozialhilfe in eine Grundsicherung mit Förderung zu holen, war nicht falsch. Könnte man nicht dieses Prinzip mit den Forderungen der Linken nach besserer Ausstattung der Leistungen verbinden? Und könnte man es nicht ergänzen durch grüne Konzepte für die Fortentwicklung der Sicherungssysteme und ihre Finanzierung? Das wäre jede Anstrengung wert.

Neben konkreten und notwendigen Reformen in Hessen hat Ypsilantis Weg also die Funktion, diese bundesweite Perspektive vorzubereiten. Vielleicht werden viele, vor allem in der SPD, erst im Rückblick merken, dass nicht das hessische Experiment, sondern der Verzicht darauf für ihre Partei und deren Ziele - Machtoptionen eingeschlossen - das größere Risiko bedeutet hätte. Hessen hat eine ähnliche Rolle schon bei Rot-Grün gespielt. Und auch damals dauerte es eine Weile, bis die Mehrheit der Sozialdemokratie aufhörte, auf die gespielten Sorgenfalten der Union hereinzufallen.