Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 31.10.2008

Konjunkturkrise: Welt droht tiefe, langwierige Rezession

 
Selbst wenn die Banken gerettet sind: Der Weltwirtschaft droht die schärfste Rezession seit mindestens den frühen achtziger Jahren. Denn jetzt erfasst der Abschwung Handel und Industrie - und kein Land kann sich dagegen sperren. SPIEGEL ONLINE analysiert, wen es wie trifft.

Berlin - Die Welt dreht sich weiter: Sechs Wochen nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers scheint eine Bodenbildung in der Finanzkrise in Sicht. Die Zinssenkungen der Notenbanken wirken langsam, allmählich fließt wieder Geld im Interbanken-Markt. Die Börsen der westlichen Industrieländer stabilisieren sich. Und spektakuläre Bankenpleiten sind alleine deswegen unwahrscheinlich geworden, weil die Institute vor dem Gang zum Konkursrichter nun den Gang zu ihrem Finanzminister antreten können – und dort Millardenhilfen aus den Rettungspaketen auf sie warten.

Leider ist dies alles kein Grund, Entwarnung für die Weltwirtschaft zu geben.

Es wird immer deutlicher, dass die Finanzturbulenzen der Konjunktur weltweit einen schweren Schlag versetzt haben. In den Industriestaaten befinden sich die Auftragseingänge im freien Fall. Weil die Banken weltweit versuchen, ihre Risiken zu begrenzen, fehlt in vielen Ländern Kredit für Investitionen oder Handel. In einer Reihe von Erhebungen zeigten sich die amerikanischen Verbraucher, lange Triebkraft der Weltwirtschaft, so skeptisch wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Die USA drohen als globaler Konjunkturmotor auszufallen.

Das Dramatische daran: Es steht niemand bereit, um die Schwäche der US-Ökonomie auszugleichen. Die Weltwirtschaft steht damit vor gigantischen Herausforderungen. Denn diese Krise hat eine andere Qualität als die Abschwünge der vergangenen Jahre. Sie trifft die komplette Globalökonomie.

Deutschland und Europa im Abwärtssog

Auch wenn derzeit in Deutschland die Banken wohl noch weiter Kredite an Unternehmen vergeben, trifft die Finanzkrise die Bundesrepublik indirekt mit voller Wucht: Praktisch alle wichtigen Exportmärkte Deutschlands stehen am Rand einer Krise oder stecken bereits in der Rezession. Die Folgen sind bereits sichtbar: Die deutschen Unternehmen blicken laut Umfragen des Münchner Ifo-Instituts so pessimistisch in die Zukunft wie noch nie seit der deutschen Wiedervereinigung.

Der Abschwung aus den USA hat sich rapide bis in die letzten Ecken der Welt ausgebreitet. Und weil die deutschen Verbraucher seit Jahren ihren Konsum nicht mehr steigern, ist Deutschland für Krisen auf den Exportmärkten besonders anfällig – die Investitionen und die Arbeitsplätze hängen direkt an der Entwicklung im Rest der Welt. Der deutschen Wirtschaft fehlt durch die große Abhängigkeit vom Export quasi die Knautschzone, die die Insassen zumindest ein bisschen vor den Folgen der globalen Konjunkturkrise schützen könnte.

Der Rest der Euro-Zone steckt voll im Sog der Finanzkrise. Frühere Wachstumspole wie Spanien oder Irland erleben ähnlich wie die USA eine eigene Immobilienkrise und steuern nach dem Platzen der Hauspreisblase nun in die Rezession. In den anderen Ländern haben der Ölpreisanstieg des vergangenen Jahres, die damaligen Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank und die Euro-Aufwertung der ersten Jahreshälfte den Aufschwung aus den Jahren 2006 und 2007 abgewürgt.

China, Osteuropa und die Ölstaaten fallen aus

China kämpft ebenfalls mit den Folgen der Krise: Eine Aufwertung der Landeswährung, gepaart mit der Kaufzurückhaltung der US-Verbraucher, hat zu einem kräftigen Dämpfer für die Exporte geführt. Gleichzeitig fallen in vielen chinesischen Städten die Immobilienpreise, die Nachfrage nach neuen Häusern ist eingebrochen. Zwar versucht die Regierung in Peking alles, das Wachstum zu stützen. Doch bislang deutet vieles auf eine deutliche Verlangsamung des Aufschwungs hin. Für einen Impuls für den Rest der Welt reicht es auf jeden Fall nicht.

Osteuropa, Wachstumsstar der vergangenen Jahre und einer der wichtigsten Exportmärkte für Deutschland, ist direkt von der Finanzkrise getroffen. Länder wie Ungarn oder die Ukraine kämpfen gegen Kapitalabflüsse und Abwertungen. Die Notenbanken der Region versuchen, mit höheren Zinsen gegenzusteuern – was wiederum das Wachstum bremst und insbesondere die Nachfrage nach Deutschlands wichtigsten Exportgütern belastet, nach Maschinen, Autos und Industriechemikalien.

Die ölexportierenden Länder, die ebenfalls in den vergangenen Jahren in großem Stil auf Einkaufstour im Rest der Welt gegangen sind, leiden unter dem Ölpreisverfall. Viele von ihnen brauchen Ölpreise von 80 Dollar oder mehr pro Barrel (159 Liter), um ihre Ausgaben zu finanzieren. Bei dem derzeitigen Ölpreis müssen diese Staaten den Gürtel enger schnallen – was ebenfalls das Wachstum im Rest der Welt bremst.

Die dramatischen Konsequenzen

Damit wird zunehmend klar, dass eine der großen Hoffnungen der Konjunkturoptimisten verfehlt war: Diese hatten lange darauf gesetzt, dass in der aktuellen Krise zwar die US-Wirtschaft lahmen würde, andere Länder wie China, Osteuropa, die Ölproduzenten oder Deutschland sich aber "abkoppeln" und eine Lokomotivfunktion für die Weltwirtschaft übernehmen könnten.

So etwas hatte es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben: In der New-Economy-Krise nach dem Jahr 2000 wuchsen Länder wie Spanien und Irland, China, aber auch die osteuropäischen Staaten kräftig weiter, was den globalen Abschwung dämpfte. In der Asienkrise Ende der neunziger Jahre war das Wachstum in den USA robust. In der US-Rezession Anfang der neunziger Jahre erlebte Deutschland gerade den Wiedervereinigungsboom und konnte Lokomotive für die Weltwirtschaft spielen.

Anders herum ausgedrückt: Im Gegensatz zu den Krisen der vergangenen beiden Jahrzehnte erlebt die Welt nun zum ersten Mal seit etwa einem Vierteljahrhundert, dass praktisch alle wichtigen Volkswirtschaften gleichzeitig in die Rezession steuern. Die Gefahr ist groß, dass sich die Abwärtsspiralen der einzelnen Ländern dabei gegenseitig verstärken, weil die schwächelnden Importe des einen Landes immer die Exporte der anderen sind.

Derzeit ist nur schwer zu erkennen, wie die Welt daraus entkommen könnte, unter anderem auch, weil Staaten wie Deutschland bislang bestenfalls halbherzig darüber nachdenken, mit höheren Staatsausgaben oder Steuersenkungen die Konjunktur zu stabilisieren.

Selbst wenn also die Banken gerettet sind: Der Weltwirtschaft droht derzeit die schärfste Rezession mindestens seit den frühen achtziger Jahren.
Von Sebastian Dullien