Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 03.12.2008

Mehr als ein christliches Feigenblatt

Die CDU erfreute sich im Machtsystem der SED gegenüber anderen Blockparteien sogar gewisser Privilegien.
 
Im Mai 1945 kehrten mit der siegreichen Roten Armee kleine Gruppen deutscher Kommunisten ins zerstörte Vaterland zurück. Die Berliner Gruppe stand unter der Leitung von Walter Ulbricht. Sie sollte in der Stadt eine antifaschistisch-demokratische Verwaltung aufbauen.

Doch die Mitglieder der „Gruppe Ulbricht“ staunten nicht schlecht, als ihnen der Chef die Instruktionen erläuterte. Als Stadträte für Versorgung und Verwaltung sollten Sozialdemokraten eingesetzt werden. Auch parteilose bürgerliche Spezialisten und selbst Pfarrer waren gefragt. Als sich Widerspruch regte, unterbrach Ulbricht die Diskussion mit den klassischen Worten: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Selten ist eine politische Maxime so lange und so konsequent eingehalten worden wie diese Formel Ulbrichts.

Im Juni 1945 erblickten in der Sowjetischen Zone neben den beiden Arbeiterparteien KPD und SPD auch die CDU und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (damals noch LDP, später LDPD) das Licht der Welt. Die beiden bürgerlichen Parteien hatten anfangs noch gewisse Spielräume. Damit war zur Jahreswende 1947/48 Schluss.

CDU, LDP, sowie die später gegründete National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) kamen in die Zwangsgemeinschaft der Nationalen Front. Die Parteien des Demokratischen Blocks – daher Blockparteien – sollten jene Menschen integrieren, die aus Tradition oder Herkommen für die SED nicht tauglich waren.

Ehemalige Parteigenossen der NSDAP und Wehrmachtsoffiziere sollten in der NDPD ihre Heimstatt finden, Handwerksmeister und private Unternehmer in der LDPD und Bauern in der DBD. Die Integration der Christen war besonders schwierig. Einerseits galt der christliche Glaube als unvereinbar mit der einzig wissenschaftlichen Weltanschauung, dem Marxismus-Leninismus. Andererseits sollten die Christen fleißig am Aufbau des Sozialismus mitarbeiten. Das Zauberwort, diesen Zielkonflikt zu lösen, hieß Bündnispolitik.

In der Volkskammer, im Staatsrat, in den Bezirks- und Kreistagen – überall saßen paritätisch Vertreter der Blockparteien. Seit 1963 galt für die 500 Sitze in der Volkskammer folgender Schlüssel: SED 127, DBD 52, CDU 52, LDPD 52, NDPD 52, FDGB 61, FDJ 37, Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) 32, Kulturbund 21, Verein der gegenseitigen Bauernhilfe 14. Die Wahlen waren demzufolge wenig aufregend. Kein Zittern um Prozentpunkte, keine Hochrechnungen und keine Koalitionsrunden.

Die Posten und Mandate wurden von der SED verteilt. Die Funktionäre und Abgeordneten der Blockparteien wurden in der Kadernomenklatur der Nationalen Front geführt. Alle Personalentscheidungen bedurften der Zustimmung der Abteilung „Befreundete Parteien“ der SED-Leitungen.

Übrigens wurde die CDU rein zahlenmäßig gegenüber den anderen Blockparteien deutlich bevorzugt. Sie erhielt 36 Prozent der den befreundeten Parteien zugebilligten Stellen innerhalb des Staatsapparates. Bei den Leiterstellen in Betrieben und Institutionen war dieses Missverhältnis zwischen der CDU und den anderen drei Blockparteien sogar noch deutlicher. Mit 53,6 Prozent erhielt die CDU mehr als die Hälfte aller den Blockparteien zugebilligten Ämter.

Sogar die Berufung von Professoren erfolgte nach einem Verteilungsschlüssel. Im medizinischen Bereich war die CDU stark vertreten. Auch auf repräsentative Posten im Kulturbereich wurden gern CDU-Vertreter geschoben. So rühmte man gerne die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Christen und Marxisten, während gleichzeitig christlichen Jugendlichen der Zugang zur Oberschule und zur Universität verbaut wurde.

Kein Zweifel also, dass die CDU Teil des SED-Systems war. Aber gerade die Tatsache, dass es eine Partei gab, die das C für christlich im Namen führte, war nicht ohne Bedeutung. Auf plumpe atheistische Attacken konnten Christen darauf verweisen, dass ja auch der CDU-Vorsitzende Gerald Götting, als Stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates und von 1969 bis 1976 auch Präsident der Volkskammer, gläubiger Christ sei. Manche bezweifelten dies zwar, die SED aber konnte es schlecht abstreiten.

Wichtiger noch war die Möglichkeit, durch einen Eintritt in die CDU der Mitgliedschaft in der SED zu entgehen. Natürlich war weder das eine noch das andere Pflicht. Doch im Berufsalltag war ohne ein Parteibuch bald schon das Ende der Karriereleiter erreicht. Oft wurde den Kandidaten auf einen gehobenen Posten signalisiert: Wenn Sie schon nicht in die SED wollen, gehen Sie doch wenigstens in eine Blockpartei.

Der Hintergrund solcher Entscheidungen war für Außenstehende leicht zu durchschauen. So wurden die „Blockflöten“ oft von beiden Seiten verachtet. In den Augen der Kirchenleute galten sie als Anpasser und Karrieristen, in den Augen der SED-Obrigkeit waren sie unsichere Kantonisten. Auf der einen Seite war die CDU-Mitgliedschaft ein Bekenntnis zur DDR und zum Sozialismus, auf der anderen Seite aber eine Art letzten Vorbehalt gegenüber einer Staatspartei, die deutlich kirchenfeindlich und erklärtermaßen atheistisch war.

Auch seitens der SED gab es immer ein gewisses Restmisstrauen. Es wäre vollkommen undenkbar gewesen, dass ein Offizier der Nationalen Volksarmee, der Polizei oder gar der Staatssicherheit in die CDU eintritt. Auch im Bereich der Volksbildung gab es deutliche Grenzen. Es dürfte die absolute Ausnahme gewesen sein, dass ein CDU-Mitglied als Schulleiter amtierte. Gern gesehen waren sie auf dem Stellvertreterposten.

Entscheidendes Motiv für einen Eintritt in die CDU war die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene, in Elternvertretungen, im Kulturbund und an anderer Stelle konkrete Veränderungen zu bewirken. Man sollte aus der Rückschau diese Möglichkeiten einer konstruktiven Mitwirkung nicht unterschätzen und schon gar nicht verdammen.

Vielen Menschen erschien es weit aussichtsreicher, sich im Wohngebiet oder im Betrieb für schrittweise Verbesserungen einzusetzen, als die Konfrontation mit der Staatsmacht zu riskieren. Von 1970 bis 1989 stieg die Mitgliederzahl der CDU in der DDR von 95000 auf 134000. Die anderen Blockparteien profitierten von diesem Zustrom sogar noch stärker. Die SED sah diese Entwicklung mit Misstrauen und schraubte den Anteil der Mandatsträger der Blockparteien auf der kommunalen Ebene zugunsten von Abgeordneten der Massenorganisationen zurück.

Im Windschatten der sowjetischen Erneuerungspolitik begann es 1988 auch in den Reihen der CDU zu grummeln. Ortsverbände wandten sich mit kritischen Stellungnahmen an den Bundesvorstand. Dies aber war eine Erscheinung, die längst auch die Grundorganisationen der SED erfasst hatte.

Während der Wendetage ging die CDU vorsichtig auf Distanz zum alten System. Es folgte im Januar 1990 ein rasanter Salto mortale an die Seite von Helmut Kohls CDU. Der Bundeskanzler stand damals für eine schnelle Wiedervereinigung. Dies honorierten die Wähler am 18. März 1990 mit einer fast absoluten CDU-Mehrheit in der letzten Volkskammer. Der Preis für diesen erfolgreichen Wechsel aber war möglicherweise der Verzicht auf den klärenden Blick zurück.
Von Stefan Wolle