Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 06.12.2008

Tillichs Sorge um das Stahlbesteck

Von Annette Binninger
 
Als Stanislaw Tillich zur Kreistagswahl in Kamenz am 7. Mai 1989 antritt, ist er ein paar Wochen zuvor gerade 30 Jahre alt geworden. Er ist Stellvertretender Abteilungsleiter im Ratsbereich Handel und Versorgung. Sein Vorgesetzter ist CDU-Mitglied. Und traditionell soll dieser Posten auch wieder mit einem Vertreter dieser Blockpartei besetzt werden. Auf Vorschlag der SED, wie es auch offiziell heißt, wird er und die anderen 18 Mitglieder durch unfreie Wahlen in das Kreis-Gremium befördert. Die Kandidaten des Nationalen Blocks erhielten 98,2 Prozent Zustimmung, vermeldete die SZ Kamenz damals.

Berichte zur Versorgungslage

Tillich schreibt Vorlagen, Vorschläge, Berichte, vor allem zur Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Er achtet dabei auch auf die damals von der Zentralregierung an die Bezirke und von dort an die Kreise weitergeleitete „Planerfüllung“. Und er legt in den in der Regel vierzehntäglichen Sitzungen Berichte zur Versorgungslage vor. Wo fehlt Brot, wo gibt es gerade nicht ausreichend Frischobst oder wo sind spezielle Rationierungen notwendig.

Selber steuern kann er nur wenig. Und wie etwas steuern oder umlenken, wo nichts da ist? In abendlichen Versammlungen hört der junge Tillich sich die Beschwerden der Menschen darüber an – und steckt die oft harsche Kritik dafür ein. Er gibt sie weiter, im heute lächerlich wirkenden Bürokratendeutsch, trägt vor, wo eine weitere Verkaufsstelle der HO (Handelsorganisation) oder des Konsum nötig wäre. In einem Gaststättenwettbewerb in Kooperation mit der SZ wirbt er dafür, dass „in allen niveaubestimmenden Gaststätten“ im Kreis Kamenz endlich Stahlbesteck eingesetzt wird. Und er wertet es als Erfolg, dass im Gasthof „Jesau“ endlich die Toilettenanlagen umgebaut werden. Laut „Jahresplan 89“ hatten sich die staatlichen Handelsorganisationen 195 Tonnen Obst, rund 100 Tonnen Gemüse und eine Tonne Wildfrüchte zum Ziel gesetzt. Tillich verwaltet den Mangel im Alltag des realexistierenden Sozialismus. Als Stellvertretender Rat für Handel und Versorgung, sagen sogenannte „gelernte DDR-Bürger“ heute, war Tillich der Prügelknabe, wenn es im Sommer kein Bier oder im Winter keinen Strom gab.

Andere Ratsmitglieder, die die SZ aufgespürt und nach ihren Erinnerungen an Tillich befragt hat, äußern sich positiv über den katholischen Sorben und einzigen CDU-Vertreter im Rat. „Tillich hat immer im Vordergrund die Menschen gesehen“, erinnert sich ein Ratsmitglied, damals ebenfalls um die 30 Jahre alt. „Tillich ist manchmal aufgestanden und hat gesagt: Leute, so können wir das nicht machen“, verteidigt er ihn gegen die „völlig ungerechten Attacken“.

Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen; aus Angst, dass es ihm, der damals die SED im Gremium stärkte, ebenso erginge wie Tillich. Umgelegt zu werden wie ein Lichtschalter, wenn man darüber redet, was damals war; weil sich die Deutschen schwertun, zwischen Schwarz oder Weiß die Grau-Stufen zu sehen, die das Einbindenlassen in ein noch so kleines regionales Machtgefüge in einer Diktatur mit sich bringt. Auch in Kamenz war letztlich die SED das Machtzentrum, nicht der scheindemokratische Rat des Kreises.

Ärger und heutige Hemmungen

„Sicher, manchmal mussten wir alle dafür, dass wir dort mitarbeiteten in den sauren Apfel beißen“, erinnert sich ein Ratsmitglied. Viele Kompromisse sei man eingegangen. Vielleicht auch dann, wenn Karl Barthel, der in den Sitzungen oft neben Tillich saß, monoton seinen Rechenschaftsbericht über die Situation bei Feuerwehr und Polizei oder eine Statistik über Ausreiseanträge vortrug. „Na, die habe ich dann direkt an die Stasi weitergeleitet – wusste doch jeder“, erinnert sich der heute 70-Jährige. Barthel war in den Achtzigerjahren Kamenzer Bürgermeister und Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres, dem eigentlich Mächtigen im Rat. Mit 18 Jahren trat er in die SED ein. Nach der Wende wurde er aus der Verwaltung entlassen. 16 Jahre arbeitete Barthel in Nürnberg für einen Wach- und Sicherheitsdienst. Erst im vergangenen Jahr kehrte er nach Kamenz zurück. Heute ärgert er sich über Tillich („ein echter Kader der CDU“). Seine Funktion im Rat des Kreises sei „kein besonderes Ruhmesblatt“, hat der Ministerpräsident kürzlich bedauert. Barthel hält dagegen: Er schäme sich nicht für das, was er damals getan habe. „Aus heutiger Sicht muss ich feststellen: Da hatten wir wohl den falschen Mann im Rat“, kritisiert er Tillichs Scham heute.

Nicht nur bei dem jungen Sorben ging es beruflich Anfang der Neunzigerjahre bergauf. Das früher im Rat zuständige Mitglied für Arbeit leitete nach 1989 das Arbeitsamt in Kamenz. Eine junge Juristin im Rat von damals ist heute Rechtsanwältin. Ein Ratskollege arbeitet heute in leitender Funktion in der Landesverwaltung. Das Mitglied des Rates für Finanzen und Preise ist heute bei einer Wohnungsgesellschaft tätig. Das Leben ging weiter.

„Man müsste doch darüber reden können“, ärgert sich eine Ex-Rätin über ihre Hemmung, frei über die damalige Zeit zu erzählen. Ihre Angestellten hätten sie gebeten, es nicht zu tun – aus Angst um ihre Arbeitsplätze. Es ist die gleiche Angst, die Stanislaw Tillich bei seinem Aufstieg in 14 Jahren vom Europa-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten stets begleitet haben muss. In einem SZ-Porträt von 1996 heißt es, er lebe „offensiv mit seiner Biografie, wo drinsteht, dass er zu DDR-Zeiten zwei Jahre beim Rat des Kreises gearbeitet hat“. Und weiter: „Spätestens bei der nächsten Wahl wird das wieder herausgekramt, das weiß er.“ Tillich sollte recht behalten. Und er macht es nun seiner Partei schwerer, mit dem Finger auf andere „Ost-Biografien“ zu zeigen.