Karl Nolle, MdL
Die Zeit , Nr. 50, 09.12.2008
Vergangenheitsbewältigung: Das Ende des Schweigens
Zweierlei Fälle für Aufarbeitung: Die "Blockflöten" der CDU und die Franco-Diktatur. Ein Vergleich
Dass die Vergangenheit nicht einfach vergeht, hat jetzt auch die CDU anhand ihrer "Blockflöten" gelernt. Wie Helmut Kohl wenige Wochen nach dem Fall der Mauer die SED-System-immanente Ost-CDU, neuerer Legenden zum Trotz nicht gerade eine Widerstandszelle, samt Apparat und Parteivermögen im Hauruck-Verfahren ins demokratische Parteiensystem des Westens integriert hat, mögen die Verantwortlichen immer noch für genial halten, allen voran Angela Merkel.
Demokratiepolitisch aber hat Kohls Coup bis heute seinen Preis, wie der Fall des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und die verdruckste Stuttgarter Parteitags-"Diskussion" der CDU über ihre ehemaligen Ostkader zeigten.
Das Hausmittel der Überschlauen, den Dreck, den Staub und die Krümel von gestern unter den Teppich zu fegen und dann bei Kaffee und Kuchen den Anwesenden zu verkünden, man wolle fortan "nach vorne schauen", versagt eines Tages. Immer guckt irgendwann irgendwer unter den Teppich, alles kommt raus, und Widerstandserzählungen verwehen.
Und dennoch hatte das eilige Einverleiben der Mitläufer, Mitwisser und Mitwirker des Stasi-Staats in die Demokratie ihren Sinn, egal zu welchem Preis. Jedenfalls aus der Sicht der Verantwortlichen. Normalität war wichtiger als Ausnahme- und Abrechnungsklima. Die Bösen dem Rechtsstaat, der Rest ins Töpfchen oder ins Kröpfchen, je nachdem. Und dann voran zur Einheit. Es gab dafür ein Modell, das zwar öffentlich kein Thema war, von wohlmeinenden Beobachtern aber gern zitiert wurde: die spanische Methode des Verschweigens und Vergessens als Basis für einen friedlichen Übergang.
Ich erinnere mich an leidenschaftliche Debatten mit einem deutschen Spanienexperten, der den Bonner Managern der Vereinigung und des Zusammenwachsens damals den iberischen "Pakt des Schweigens" als Vorbild empfahl. Wobei er allerdings nicht nur die Integration der Blockparteien in die West-Regierungsparteien CDU und FDP meinte, sondern auch den Umgang mit den SED-Mitgliedern, Funktionären und Bonzen. Kein Strafgericht, keine öffentliche Feme, keine Ausgrenzung. "Nach vorne schauen." Anders hätten die Spanier nach Francos Tod die ruhige transiçion vom autoritären, postdiktatorischen Einparteien- und Polizeistaat zur westeuropäischen Demokratie und später zur Nato- und EU-Mitgliedschaft nie geschafft.
Zur Erinnerung: Im deutschen Vereinigungsjahr 1989 war, spanisch betrachtet, Franco erst 14 Jahre tot, die spanische demokratische Verfassung, deren 30. Jubiläum im ganzen Land am 6. Dezember feierlich begangen wurde, erst seit elf Jahren in Kraft und der Putschversuch eines Oberstleutnants der Guardia Civil, vom König zur Überraschung vieler oppositioneller Demokraten praktisch im Alleingang gestoppt, lag erst neun Jahre zurück. Vor diesem Hintergrund kann man den Rat an die Deutschen – nicht in den Wunden wühlen, die Vergangenheit ruhen lassen, an das Gemeinsame denken – irgendwie verstehen.
Aber gepasst hätte das Rezept auf die deutsche Situation der Vereinigung schon damals nicht. Und wo, Beispiel Blockparteien, die spanische Methode des Weg- und "Nach-vorne"-Schauens angewandt wurde, geschah es aus aktuellem Parteien-Egoismus, nicht aus Sorge um historische deutsch-deutsche Empfindsamkeiten. So viel scheinheilige staatspolitische Milde, wie die Union sie bei der Eingliederung der Blockpartei in die Demokratie obwalten ließ, spielte keine Rolle in den Fällen jener SED-Mitglieder, die sich nach Kriterien des demokratischen West-Rechtsstaats nichts zuschulden hatten kommen lassen, wegen ihrer Mitgliedschaft in der Einheitspartei aber ihren Job verloren und insgesamt zu Vereinigungsverlierern gestempelt wurden.
Widerständler waren die Wenigsten von ihnen – obwohl manche in der SED mit einem kritischen Wort mehr riskierten als das Gros der schweigsamen SED-Helfer in der Ost-CDU. Dass die Frage nach deren Rolle jetzt plötzlich wieder hochkommt, hat daher etwas Gerechtes. Dass es den Selbstgerechten in der Ex-SED-Linkspartei in die Hände spielt, fällt nicht ins Gewicht. Das ist im Preis für das Verdrängen enthalten.
Heute drängt aber auch in Spanien die Vergangenheit an die Oberfläche zurück. Der Schweigepakt hält nicht mehr. Der Bürgerkrieg (1936-1939) und danach die grausame Rache der faschistischen Sieger an den linken Verlierern kehrt in die Erinnerung zurück. Wie sollte es anders sein? Manche der damals Verfolgten leben noch. Vor allem leben aber viele Angehörige der Opfer, die genau wissen, wer die Mörder ihrer Lieben waren, wo sie gelebt haben, wer deren Nachkommen sind. Das öffentliche Gedächtnis hat nicht vergessen. Kaum ein spanisches Dorf, in dem es nicht Geschichten von Verfolgung und Vernichtung aus jener Zeit gibt. Und die Älteren wissen, wo die Leichen damals verscharrt worden sind. Kleine Sebrenicas gab es überall. Offen gesprochen wird darüber erst seit Beginn des neuen Jahrhunderts.
Seit einigen Jahren werden überall die bekannten Gräber geöffnet, die sterblichen Überreste sortiert, Identifikationen versucht. Seit Kurzem gibt es ein – auf symbolische Wirkung beschränktes – Gesetz über "die historische Erinnerung". In den meisten Gemeinden und Städten wurden Statuen und sonstige Erinnerungen an Franco beseitigt. Auf dem Büchermarkt boomt die Aufarbeitungsliteratur. Filmemacher behandeln das Thema, in Spielfilmen und ausführlichen Dokumentationen. Und der umtriebige Staatsanwalt Balthasar Garzón, international bekannt seit seiner Jagd nach dem chilenischen Ex-Diktator Pinochet, hat kürzlich versucht, die Täter von damals strafrechtlich zu verfolgen, allen voran Franco. Da ihm die Zuständigkeit dafür fehlte, musste Garzón den Versuch zwar wieder aufgeben. Doch das rechtsstaatliche Zeichen, um das es ihm ging, hat er gesetzt: Die Zeit des Schweigens ist vorbei.
Zweierlei Vergangenheiten, gewiss schwer zu vergleichen. Der Rückblick auf eine andere deutsche Erinnerungsarbeit, nämlich die Verarbeitung des gesamtdeutschen Nationalsozialismus, zeigt deutlich, wie schwer es sein kann, damit überhaupt zu beginnen und dann produktiv damit umzugehen. Doch hier, immerhin, haben die Deutschen einiges geleistet, trotz aller Mängel vor allem in der Nachkriegszeit und der lange dauernden teils komplizenhaften, teils zumindest fahrlässigen Nichtbefassung mit dem Thema. Anders als im Nach-Franco-Spanien lag dem Schweigen im Adenauer-Staat jedenfalls kein demokratischer Konsens zugrunde.
Was in Spanien aus den Jahren der Massenerschießungen, der Vertreibung, der Arbeitslager und der massenhaften Zwangsadoptionen – das jüngste Thema der spanischen Aufarbeitung – bis vor Kurzem verschwiegen und verdrängt wurde, wiegt gewiss schwerer als die Rolle des "Blockflöten" innerhalb der heutigen CDU-Spitze. Der "Fall Tillich" ist, um mit einem deutschen Ex-Banker zu sprechen, vergangenheitspolitisch peanuts. Kleinkram. Doch das ist gleichgültig. Sich der Vergangenheit zu stellen, ist hier wie dort geboten. Die Demokratie und die Demokraten müssen das schon aushalten. Lang genug Zeit hatten sie.
Von Werner A. Perger