Karl Nolle, MdL

DIE WELT, 17.01.2009

DDR-Geschichte: "Linke trägt Reste einer totalitären Sekte in sich"

Interview: Vor zwanzig Jahren war Stephan Hilsberg Mitbegründer und erster Geschäftsführer der DDR-Sozialdemokraten.
 
Vor zwanzig Jahren war Stephan Hilsberg Mitbegründer und erster Geschäftsführer der DDR-Sozialdemokraten. 2009 wird er nicht mehr für den Bundestag kandidieren. Mit WELT ONLINE spricht Hilsberg über die Übernahmeversuche der SED, Indentitätsprobleme der Bundespartei und über rot-rote Bündnisse.

WELT ONLINE: Herr Hilsberg, vor 20 Jahren haben Sie Parteigeschichte geschrieben und dazu beigetragen, das Machtmonopol der SED zu brechen. Erfüllt Sie das mit Stolz?

Stephan Hilsberg: Ja. Das gehört zu den größten Leistungen auf meinem Lebenskonto.

WELT ONLINE: Warum firmierte die Ost-SPD zunächst als SDP?

Hilsberg: Weil sie kein Ableger der SPD war. Die SDP war eine eigenständige Gründung und wir meinten, dies sei der effektivste Schritt zur Veränderung des DDR-Systems. Niemand kam auf die Idee, die SPD um Erlaubnis zu bitten. Und ob wir die bekommen hätten, steht doch sehr in Frage.

WELT ONLINE: Teile der SPD waren in der Tat nicht begeistert, sie hofften auf Reformen in der SED. Wie haben Willy Brandt und Hans-Joachim Vogel, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine diesen Prozess begleitet?

Hilsberg: Brandt war unangefochten. Auch Vogel wirkte in keiner Weise anfällig für die SED-Ideologie. Bei Lafontaine und Schröder war das anders. Da gab es eine gewisse Skrupellosigkeit. Ihre Sympathien für eine Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und ihre Mobilisierung von sozialen Ressentiments gegen Übersiedler hatte ein erhebliches Geschmäckle.

WELT ONLINE: Ab wann hat die SPD Ihre Partei unterstützt?

Hilsberg: Sofort nach dem Mauerfall. Es war eine spontane, keine von der Parteispitze politisch konzeptionell durchdachte Unterstützung. Die Basis hat sich aber mit großer Kraft engagiert. Das war wie eine aufkeimende Graswurzelbewegung. Trotzdem kam die Hilfe für meine Begriffe zu spät.

WELT ONLINE: Zuvor hatte die SDP noch die "Zweistaatlichkeit Deutschlands" proklamiert. Aus Taktik oder Überzeugung?

Hilsberg: Im oppositionellen Spektrum waren wir diejenigen, die zuerst die Einheit thematisiert haben. Das führte sofort zu Differenzierungen. Einige plädierten leidenschaftlich für die Einheit. Andere rieten zur Vorsicht, weil wir die Russen im Land hatten. Etliche konnten mit Westdeutschland überhaupt nichts anfangen.

WELT ONLINE: Welche Haltung hatten Sie persönlich?

Hilsberg: Schon 1988 war ich überzeugt, dass der Machtverlust der Kommunisten zwangsläufig zur Einheit führen würde. Überrascht hat mich dann jedoch Brandts Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“. Ich verstand die Maueröffnung als einen Versuch der SED, Verwirrung zu stiften. Die Staatspartei wollte aus meiner Sicht das Heft des Handelns ein letztes Mal in die Hand bekommen.

WELT ONLINE: Der 26. August 1989, als in der Ost-Berliner Golgatha-Gemeinde erstmals öffentlich zur Gründung der SDP aufgerufen wurde, ist ein Meilenstein der Sozialdemokratie. Wie feiert sie das 20-jährige Jubiläum?

Hilsberg: Da müssen Sie den Parteivorstand fragen.

WELT ONLINE: Gibt es denn kein Konzept?

Hilsberg: Einige Sozialdemokraten wie Wolfgang Tiefensee und Markus Meckel haben Vorschläge unterbreitet. Leider kümmern sich nur Ostdeutsche darum. Das ist falsch, die Gesamtpartei ignoriert einen Teil ihrer Historie.

WELT ONLINE: Weshalb hat die Ost-SPD im März 1990 bei der Volkskammerwahl nur 22,3 Prozent erreicht?

Hilsberg: Einige Demoskopen sahen uns im Januar 1990 bei über 50 Prozent. Diese aberwitzigen Umfragen haben Geschichte geschrieben. Helmut Kohl sah seine Felle davon schwimmen und suchte daher Partner. Dass er sich mit der DDR-CDU verbündete, war ein unnötig hoher Preis. Hätte sich Kohl angesichts der Bedeutung, die er als Kanzler im Einigungsprozess hatte, nur mit der neu gegründeten Partei Demokratischen Aufbruch verbündet, wäre sein Wahlerfolg ähnlich hoch ausgefallen. Die SPD hatte keine Chance, zumal die Ostdeutschen autoritätsfixiert waren. Aber Kohl wollte auf Nummer sicher gehen. Für die Demokratisierung war das ein schwerer Fehler.

WELT ONLINE: Dafür ist die Ost-CDU bis heute organisatorisch besser aufgestellt als die SPD.

Hilsberg: Mein Eindruck ist, dass große Teile der CDU-Basis dort überhaupt nicht wissen, was Politik auf christlicher Grundlage bedeutet. Es wird zwar viel über Konservativismus geschwafelt, aber gelebt wird dieser Wert selten. Geistig wirkt da die Hinterlassenschaft der alten DDR nach.

WELT ONLINE: Eine populäre Erklärung für die Schwäche der SPD im Osten lautet, es sei damals ein Fehler gewesen, keine SED-Mitglieder aufzunehmen. War das eine falsche Weichenvorstellung?

Hilsberg: Nein. Das ist eine Legende, die früh in die Welt gesetzt wurde und heute selbst im bürgerlichen Lager Anklang findet. Wir haben uns damals völlig richtig verhalten. Der Flügel um den Dresdner SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer hat uns den Antrag gemacht, mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern in unsere Partei einzutreten. Dafür wollten die SED-Genossen privilegierte Positionen im Vorstand bekommen. Das wäre das Aus der Ost-SPD gewesen und war nicht vermittelbar. Innerhalb der SED gab es nie einen sozialdemokratischen Flügel, den Berghofer-Leuten ging es allein um den Machterhalt.

WELT ONLINE: Würde die Linkspartei heute schwächer sein, wenn sich die Ost-SPD damals der PDS geöffnet hätte?

Hilsberg: Das Gegenteil wäre der Fall. Ganz Deutschland stände heute schwächer da. Die SED war ausgebrannt. Im Gegensatz zur CDU haben wir uns bewusst dagegen entschieden, mit der alten Garde weiterzumachen. Ohne Korrektiv zur SED hätte diese unseren Platz sofort besetzt, mit fatalen Konsequenzen.

WELT ONLINE: Waren die neuen und gewendeten Ost-Parteien kreativ? Sie haben doch meist Konzepte aus dem Westen kopiert.

Hilsberg: Das war erst nach der Einheit. Da haben eigentlich nur Brandenburg und Sachsen gestalterisch an der Einheit mitgewirkt. Sachsen verdankte das dem pragmatischen, weit blickenden Kurt Biedenkopf, Brandenburg der guten Mitgliederstruktur.

WELT ONLINE: Solche Impulsgeber sind diese Länder längst nicht mehr.

Hilsberg: Das stimmt, aber es ist ein allgemeines Phänomen. Viele ostdeutsche Politiker blicken zu sehr zurück und wollen eine "Ost-Identität" bewahren. Damit gewinnt man keine Zukunft. Die SED-Diktatur hat die gesamte Gesellschaft beschädigt. Eine demokratische Gesellschaft braucht Kreativität, Zupacken und Zuversicht der Bürger. Eine Politik, die Probleme nur mit staatlichem Handeln in den Griff bekommen will, ist auf dem Holzweg. Gerade diese Art von staatlichen Allmachtsvorstellungen grassiert aber in Ostdeutschland.

WELT ONLINE: Die Politik ist also Teil der Probleme im Osten? Und zwar beider Volksparteien?

Hilsberg: Sie sind mitverantwortlich. Die CDU tut sich sehr schwer mit einer Region, die praktisch entchristlicht ist. Viele Werte sind weggebrochen, und wirtschaftliche allein reichen nicht. Auch eine soziale Marktwirtschaft lebt von sozialer Verantwortung und ehrenamtlichen Engagement. In der SPD wurden die Möglichkeiten des Sozialstaates faktisch überschätzt. Die Vision von Brandenburgs verstorbener Sozialministerin Regine Hildebrandt etwa ist gescheitert. Sie wollte in Ostdeutschland erstmals einen besseren Sozialstaat als in Westdeutschland aufbauen. Dies wollte sie mit Geldern für den Aufbau Ost bezahlen.

WELT ONLINE: Wurde damit eine weltweit einzigartige Anspruchshaltung erzeugt?

Hilsberg: Ja, und politisch war das für die SPD fatal. Denn die PDS hatte sich darauf spezialisiert, Ansprüche zu erzeugen, die über das hinausgingen, was die Einheit leisten konnte. Noch immer suggeriert die Linkspartei, die Ostdeutschen trügen nicht nur die Last der Diktatur, sondern auch die Last einer verfehlten Einigungspolitik. Die Volksparteien plappern das oft nach, und sogar die CDU bedient manchmal die Anspruchshaltung. Insofern hat die Linkspartei im Osten unnötigerweise eine gewisse geistige Führerschaft über Probleme der Einigungspolitik übernommen.

WELT ONLINE: Wie ist es um die Aufarbeitung der Diktatur bestellt?

Hilsberg: Es gibt kein ostdeutsches Land, das nicht mit heftigen Problemen der Vergangenheit konfrontiert war. Mit Ausnahme von Sachsen hatten sämtliche Länder Ministerpräsidenten mit Stasi-Biografien. Alle haben versucht, sich herauszureden. Niemand hat so geschickt argumentiert wie Manfred Stolpe. Er hat es geschafft, die Kontroverse um seine Stasi-Akte zu einer Auseinandersetzung um West und Ost zu machen. Durch das Bedienen von Ressentiments konnte er seine eigene Macht stabilisieren. Stolpe hatte die gleiche Strategie wie die PDS.

WELT ONLINE: Lafontaine behauptet, die Linke sei eine neue Partei, der man nicht die alten Sachen an die Backe kleben dürfe.

Hilsberg: Die Linkspartei wird sich nie vom Makel der Diktatur befreien können. Sie hat sich davon nicht lösen wollen und sie wird sich künftig davon nicht lösen können. Letztlich zeigt sie ein positives Verhältnis zur SED-Diktatur mit Mauer, Toten und Wirtschaftsbankrott. Bis heute brüstet sie sich damit, dieses Experiment gewagt zu haben. Aus solchen totalitären Denkansätzen erwachsen permanent aktuelle Gefahren.

WELT ONLINE: Hat Rot-Rot in Magdeburg, Schwerin und Berlin die PDS bzw. Linkspartei entzaubert oder erst salonfähig gemacht?

Hilsberg: Sie haben zur Stabilisierung dieser Partei beigetragen. Ohne das Magdeburger Modell und das Zusammengehen in Schwerin wäre die amtierende Koalition im Land Berlin kaum möglich gewesen. Obwohl sie immer angestrebt wurde. Da waren Politiker wie Klaus Wowereit skrupellos. In der Berliner SPD gab es teilweise absurde ideologische Grundhaltungen.

WELT ONLINE: Warum wird so viel über ein Linksbündnis debattiert und so selten über Alternativen wie Rot-Grün oder eine Ampel?

Hilsberg: Es ist überhaupt falsch, nur in Koalitionen zu denken. Die SPD muss sich zuallererst auf ihre eigene Identität besinnen. Wir stehen dafür, dass sozialer, technischer und wirtschaftlicher Fortschritt möglich ist. Wir sind nicht mit einer Kette apokalyptischer Ereignisse konfrontiert, sondern können die Verhältnisse selbst gestalten. Dieses Bewusstsein fehlt mitunter.

WELT ONLINE: Fordern Sie einen förmlichen Abgrenzungsbeschluss?

Hilsberg: Das ist reine Taktik, kein Ersatz für Strategien. Um Schlimmeres zu verhüten, habe ich 1994 die "Dresdner Erklärung" unterstützt, in der die PDS als klarer Gegner der SPD benannt wird.

WELT ONLINE: Andrea Ypsilanti wollte Rot-Rot erstmals im Westen durchsetzen. Klaus Wowereit wird es doch wohl 2013 im Bund versuchen?

Hilsberg: Wer solche Machtspielchen betreibt, übersieht, dass die SPD dabei einen sehr wichtigen Anspruch preisgibt. Wowereit und Ypsilanti tun so, als ob ein Fortschritt im sozialdemokratischen Sinne nur möglich sei, wenn eine Mehrheitsbildung im sogenannten linken Spektrum zustande kommt. Sie glauben, dass man in einer Koalition mit der Linken Deutschland stärker modernisieren könnte als beispielsweise in einer großen Koalition. Die Linke trägt Reste einer totalitären Sekte in sich. Die sogenannte linke Mehrheit ist eine ideologische Schimäre, dem sich die SPD unterordnen würde.
Von Martin Lutz und Uwe Müller

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Stephan Hilsberg

Geboren am 17. Februar 1956, wuchs Stephan Hilsberg in Möncheberg (Brandenburg) auf. Am 7. Oktober 1989 gründete er die die Sozialdemokratische Partei (SDP) in der DDR und wurde deren erster Vorsitzender. Zuvor hatte er sich in der DDR-Friedensbewegung engagiert.

Von März bis Oktober 1990 gehörte er der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR an, seit dem 3. Oktober 1990 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2000 bis 2002 war Hilsberg Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und von 2005 bis 2007 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.

Im Herbst 2008 unterlag Hilsberg einem internen Konkurrenten um die Kandidatur in seinem bisherigen brandenburgischen Wahlkreis und wird bei der Bundestagswahl 2009 nicht mehr antreten.