Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 11.04.2009

"Das DDR-System trat die Freiheit mit Füßen“

"Ganz eindeutig ist, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Es gab keine Gewaltenteilung und keine unabhängigen Gerichte."
 
Frau Schwan, haben Sie schon mal am Zaun des Schlosses Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, gerüttelt und gerufen: „Ich will da rein“?

Nein. Mein Naturell ist anders. Außerdem bin ich ja auch schon als Gast im Schloss gewesen.

Sie könnten bald ganz einziehen. Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung haben sich – zuletzt in Sachsen – noch einmal zu ihren Gunsten geändert. Sehen Sie für sich jetzt eine echte Chance?

Natürlich. Ich habe immer eine echte Chance für mich gesehen. Sie ist mit dem Stimmenwechsel in Sachsen jetzt noch größer geworden. Die Wahl ist durchaus offen.

Dann müssen Sie für den Fall der Fälle eine Dankesrede vorbereiten?

Ja. Ich werde vorbereitet sein.

Sie erwarten wirklich, dass Abweichler aus der Union oder der FDP kurz vor der Bundestagswahl Ihnen ihre Stimmen geben?

Das Wort Abweichler würde ich nicht in den Mund nehmen. Man muss immer beachten, dass es eine geheime Wahl ist. Man kann bei keiner Partei die Hand ins Feuer legen, dass alle dem folgen, was die Parteiführungen vorgeben. Das finde ich auch richtig, denn schließlich ist es eine Persönlichkeitswahl, die nicht parteipolitischen Lagern folgt.

Sie haben sich auch bei der Linkspartei vorgestellt. Ist die jetzt sicher auf Ihrer Seite?

Die Linkspartei hat mit Peter Sodann einen eigenen Kandidaten, den die Linken in der Bundesversammlung im ersten Wahlgang sicher wählen werden. Was in möglichen weiteren Wahlgängen geschieht, muss die Linkspartei selbst entscheiden.

Wäre Ihre Wahl nicht doch ein Signal für Rot-Rot-Grün auch im Bund?

Nein. Rot-Rot-Grün jetzt im Bund ist schon deswegen ausgeschlossen, weil es bei Weitem nicht genügend Übereinstimmung in den notwendigen zentralen Politikfeldern zwischen der SPD und der Linkspartei gibt. Selbst die Linke weiß, dass ihr es jetzt nicht gut tun würde, wenn sie in der Bundesregierung Verantwortung übernähme.

Nicht nur die Linke beschäftigt 20 Jahre nach dem Mauerfall die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Was ist das eigentlich und wie hält es die bekennende Antikommunistin Schwan damit?

Ganz eindeutig ist, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Es gab keine Gewaltenteilung und keine unabhängigen Gerichte. Das begünstigt immer Willkür. Und Willkür ist Unrecht. Ein Nicht-Rechtsstaat begünstigt Unrecht. Das ist auch in der DDR so gewesen. Es war ein System, das die Freiheit Andersdenkender mit Füßen getreten hat. Dass man sein Recht nicht öffentlich einklagen konnte, hat damals die ganze Lebensatmosphäre und politische Kultur beeinflusst. Auch in einem Rechtsstaat gibt es natürlich Fehlurteile. Aber deswegen gibt es unabhängige gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten.

Wäre für eine Bundespräsidentin Gesine Schwan das Verhältnis zwischen Ost und West ein vorrangiges Thema?

Ja. Für mich ist das Ost-West-Verhältnis ein Lebensthema. Die Wiedervereinigung war immer mein dringender Wunsch. Ich habe mich nie mit der Teilung abgefunden, und zwar wegen der unfreiheitlichen Verhältnisse in der DDR. Ich habe auch in meiner langjährigen Tätigkeit in Frankfurt (Oder) immer versucht, Brücken zu bauen. Vielfach wussten die Menschen gar nicht mehr, ob ich eine Ossi oder eine Wessi bin.

Muss man die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West akzeptieren? Zementiert nicht der, der sie einebnen will, den Subventionsstaat?

Wir dürfen die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West selbstverständlich nicht auf Dauer akzeptieren. Es geht nicht, langfristig zwischen Deutschen hier und Deutschen da zu unterscheiden. Aber ganz offensichtlich ist, dass nicht alle Unterschiede so schnell einzuebnen sind, wie wir uns das gewünscht haben. Unser Ziel muss dennoch sein, überall in Deutschland annähernd gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen.

Zur Krise: Wer ist an ihr schuld – durchgeknallte Finanzmanager, die Gier oder gar der Kapitalismus selbst?

Alle drei nicht. Es geht um mehr als die Fehlspekulationen einiger Banker. Wir befinden uns nicht nur in einer Wirtschafts-, sondern in einer Kulturkrise. Der Wettbewerb ist und bleibt der entscheidende Motor für Wohlstand und Produktivität. Aber insgesamt ist die Konkurrenz eines jeden gegen jeden zum Grundverhältnis der Menschen untereinander geworden. Der Hauptwert, den die Eltern heute ihren Kindern weitergeben wollen, ist: sich durchsetzen zu können. Wir sind keine Gesellschaft mehr, die von Solidarität geprägt ist, sondern inzwischen eine, in der quasi jeder jeden bedroht und in der man sich gegen die anderen durchsetzen muss. Das halte ich für eine kulturelle Krise. Manager haben oft nur noch die schnelle Rendite im Blick. Das führt zu einer strukturellen Verantwortungslosigkeit.

Haben Sie Sorge, dass die Krise den sozialen Frieden gefährden könnte?

Es gibt sehr viel Wut. Wenn es keine nachvollziehbare Perspektive der Besserung gibt, kann die noch zunehmen und sich in Gewalt oder Massenprotesten äußern.

Wundert es Sie, wie schnell fünf Milliarden Euro zum Autoabwracken aufgebracht werden und wie schwer es ansonsten ist, Geld für mehr und bessere Bildung locker zu machen?

Ja, das wundert mich auch. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Bundesregierung einen kurzfristigen Konjunkturimpuls setzen wollte und musste. Bildungsinvestitionen wirken demgegenüber langfristig. Bei aller Kritik muss man sehen: Die Abwrackprämie trägt zur Modernisierung der Fahrzeugflotte bei. Moderne Autos verbrauchen weniger Sprit – das ist auch ein Beitrag zur Schonung der Umwelt.

Gespräch: Peter Heimann