Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 25.11.2008

Erklärung von Stanislaw Tillich: „Ich stehe zu jedem Punkt meiner Biografie“

"Die Verhaltensweisen von Ostdeutschen in der DDR dürfen nicht einem Generalverdacht aus dem Westen ausgesetzt werden."
 
Dieser Tage wird mir meine DDR-Vergangenheit vorgehalten. Nicht nur weil es Angriffe auf mich persönlich gab, habe ich darüber nachgedacht, wie wir Deutschen mit unseren Vergangenheiten umgehen und wie wir miteinander darüber reden. Ich gehe damit ganz offen um.

Meinen Eintritt in die CDU im März 1987 verstand ich als persönliche Absage an die SED, vor der ich Ruhe haben wollte. Wenn man kein Parteibuch hatte, war die Werbung in die SED latent. Seit 1985 war Gorbatschow in Moskau an der Macht. Wir lasen den „Sputnik“, solange es ihn gab, und hatten Hoffnung, dass einiges, was da in der Sowjetunion stattfand, auch zu uns herüberschwappt. Es lagen Hoffnungen auf Veränderungen in der Luft, man konnte es spüren. Mitgestalten zu wollen, schien zumindest wieder etwas sinnvoller zu werden.

Wir haben in der Familie, aber auch unter Freunden in der Kirchgemeinde oft diskutiert: Bleiben oder gehen? Letztlich war für meine Frau und für mich Flucht nie eine Alternative. Eben wegen der Risiken für die Familie, aber auch, weil wir durchaus die Meinung teilten, dass es besser sei, zu bleiben, um für uns selbst, aber auch für unsere Eltern besser sorgen zu können.

Das betraf auch meine Entscheidung, als CDU-Vertreter im Rat des Kreises Kamenz Verantwortung zu übernehmen. Die Position wurde frei und sollte von der CDU wieder besetzt werden, ich wurde gefragt. Vom 1. Oktober 1987 bis zum 24.Mai 1989 war ich dort als Verwaltungsangestellter, danach seit Mai 1989 als Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises zuständig für Handel und Versorgung.

Während meiner kurzen Zeit im Rat des Kreises – wo man „bei Handel und Versorgung“ täglich mit dem Mangel und auch mit dem Zorn der Leute darüber konfrontierte wurde – und vor allem in den Wendetagen wurde mir stärker als zuvor klar: Das Spiel, das bis dato mit den Menschen gespielt wurde, war zutiefst zynisch, und es war wichtig, es schnell zu beenden. So dachten in diesen Wochen viele DDR-Bürger, ob nun parteilos, Mitglied der CDU und sogar der SED.

Es ist bekannt, dass der Führungsanspruch der SED in der Verfassung der DDR festgeschrieben stand und sich alle weiteren Gesetzeswerke entsprechend darauf bezogen. Das galt übrigens nicht nur für den politischen, sondern jeden in irgendeiner Form von staatlicher Organisation betroffenen Lebensbereich.

Die Blockparteien stellten die Stellvertreterposten wie für Handel und Versorgung, Handwerk oder auch Verkehr. Die zur Durchsetzung des Führungsanspruchs der SED wichtigen Bereiche wie Inneres, Bau oder Volksbildung wurden durch sie selbst beansprucht. Phrasen, wie die Auswertung der Beschlüsse der SED und deren Umsetzung im Alltag waren innerhalb der DDR alltäglich und aus keinem Lebensbereich wegzudenken. Beispielsweise standen derartige Kodizes auch vor Dissertationen.

Selbst die Arbeit der Kirche stand seit 1969 auf der gesetzlichen Grundlage der DDR-Verfassung („Kirche im Sozialismus“). Aber die Akzeptanz der führenden Rolle der SED hat nicht ab einer bestimmten Funktion begonnen, sondern war Grundlage des Lebens in der DDR. Die Rolle der SED durften weder CDU-Mitglieder noch andere ungestraft infrage stellen. Das heißt aber keinesfalls, dass wir sie tatsächlich ideologisch anerkannten.

Ich erinnere mich an eine geflügelte Redewendung der damaligen Zeit: „Sie brauchen es nicht glauben, Sie müssen es nur wissen.“ Bei der „Rotlichtbestrahlung“ ging es immer um die führende Rolle der SED, die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung usw. Selbst beim Theologiestudium an den Universitäten wurde ein Tag pro Woche ML (Marxismus-Leninismus) unterrichtet. Wer in der DDR aufgewachsen ist, weiß, dass allein eine Teilnahme nicht bedeutete, dass man die Inhalte teilte.

Unter diesen Bedingungen ging es darum, seinen eigenen Weg zu finden, mit der scheinbar unveränderlichen Situation umzugehen. Ich meine, dass es weder unter den Bedingungen der Diktatur noch unter anderen Verhältnissen nur eine richtige Handlungsweise gibt. Nur Ideologen können behaupten, es gebe nur einen richtigen Weg.

Was falsch ist, lässt sich immer und überall leichter bestimmen als das, was richtig ist. Hier gibt es immer verschiedene Möglichkeiten, die mit der je eigenen Lebenswirklichkeit ebenso zu tun haben wie mit den eigenen Überzeugungen. Weder behaupte ich, dass meine Art, mich unter den Bedingungen der als unveränderlich erfahrenen Diktatur zurechtzufinden, die einzig richtige war, noch stelle ich die Handlungsweise derer infrage, die sich jeder Mitarbeit im System verweigerten oder versuchten, in den Westen zu gehen. Für jede Haltung gab es im Spannungsfeld von gesinnungs- und verantwortungsethischen Positionen gute Gründe. Sie haben die Diskussionen über politische Fragen in Freundeskreisen und in den Gliederungen der CDU mitbestimmt.

Ich war und bin ein pragmatisch orientierter Menschen, der vor Ort, in der Heimat etwas verändern wollte und dabei nicht ideologisch geprägt war. Ich ging natürlich davon aus, dass komplett ohne die Duldung des SED-Systems ein Engagement überhaupt nicht möglich war. Ich war jung und wollte aus meinem Leben etwas machen.

Als damals knapp 30-Jähriger habe ich nach Handlungsformen gesucht, wie ich mich unter den Bedingungen der politischen Rahmenbedingungen entwickeln konnte. Andere haben sich anders entschieden. Was ich aber für mich und – wie ich meine – die Mehrzahl der Menschen in der DDR entschieden zurückweise, ist der Versuch, unser Leben von Menschen insbesondere aus dem Westen abwerten zu lassen. Es darf nicht sein, dass ostdeutsche Verhaltensweisen zunehmend einem Generalverdacht ausgesetzt werden und Handlungsweisen der DDR-Bevölkerung generell und grundsätzlich stigmatisiert werden.

Nun wird mir insbesondere vorgeworfen, ich hätte an einem zehnwöchigen Kurs an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam teilgenommen. Darüber wundere ich mich. Dieses wie auch andere Lehrgänge waren Teil eines Ausbildungsprogramms für die Position, für die ich mich entschieden hatte. Um dies angemessen beurteilen zu können, muss man wissen, dass Schulungen in Marxismus-Leninismus das gesamte Leben in der DDR bestimmten. Ob Staatsbürgerkunde, Vorlesungen in Marxismus-Leninismus mit Anwesenheitspflicht oder Politunterricht während des Wehrdienstes waren Teil der Staatsdoktrin und Teil der im Volksmund genannten „Rotlichtbestrahlung“. Viele Menschen in der DDR haben solche und andere Schulungen absolviert. Will man sie deswegen heute als Unterstützer der SED-Diktatur bezeichnen? Das trifft ja nicht einmal für jedes SED-Mitglied zu.

Heute werde ich mit Vorwürfen konfrontiert, zu einer B-Struktur mit besonderen Befugnissen im Kriegsfall gehört zu haben. Angeblich hätte ich im Ernstfall Weisungsbefugnis gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gehabt. Ich höre davon zum ersten Mal.

Die Behauptung, die SED hätte der CDU oder der LDPD im Kriegsfall oder in irgendeinem anderen Fall Weisungsbefugnis über das MfS, dem „Schild und Schwert der Partei“ übertragen, scheint geradezu abenteuerlich. Es zeigt den Kenntnisstand derer, die mich mit Vorwürfen konfrontieren. Und es zeugt davon, dass es mitnichten um einen differenzierten Umgang mit der DDR-Vergangenheit und ihre Aufarbeitung geht, sondern um eine Instrumentalisierung im politischen Wettstreit.

Im Übrigen erinnere ich mich an zwei Kontakte mit dem MfS. In beiden Fällen bekam ich Besuch in meinem Büro. In einem Fall ermittelten MfS-Mitarbeiter wegen einer beschädigten Versiegelung an einer Tür des Computerraums in meinem früheren Betrieb, in einem anderen Fall sollte ich Versorgungsengpässe erklären.

Um den Menschen in der DDR Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dränge ich darauf, dass alle Seiten, auch meine Partei, die Beschäftigung mit der DDR nicht für kurzfristige politische Zwecke missbrauchen. Wozu waren sonst alle Enquete-Kommissionen des Bundestages oder unsere gemeinsame „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ gut, wenn wir alle, die unter den Bedingungen der Diktatur nach Formen praktischer Mitarbeit an Problemen, die schließlich unser Leben vor Ort unmittelbar betrafen, suchten, unter einen Generalverdacht stellen? Gleichzeitig aber dürfen wir nicht zulassen, dass die Täter die Geschichte der Opfer neu schreiben.

Hätte ich das SED-Regime unterstützen wollen, wer oder was hätte mich hindern sollen, in der SED Karriere zu machen? Ich habe bewusst einen anderen Weg gewählt und versucht, aus meinem Glauben heraus für mich Wege der Lebensgestaltung zu finden, bei denen ich bei meiner Familie vor Ort tätig sein konnte.

In der Kirche diskutierten wir damals die Positionen des Ökumenischen Konzils, die auch für mich wichtige Orientierungshilfen waren. Ich anerkenne mit Respekt, dass es damals in der Kirche viele Menschen gab, die weitergehende Änderungen für möglich hielten. Mein Respekt gilt denen, die zur Kommunalwahl 1989 in die Wahllokale gingen, um möglichen Fälschungen auf die Spur zu kommen. Ich war damals noch nicht so weit. 20 Jahre später fühle ich mich zutiefst verpflichtet, ihre Verdienste zu verteidigen.

Die Blockpartei CDU war Teil des SED-Systems. Sie hat zur Stützung des Staatsapparates beigetragen. Das ist die historische Wahrheit und mit der muss ich leben, und mit dieser Wahrheit kann ich heute auch leben.

In der sächsischen CDU sind heute sowohl die vertreten, die wie ich nach Formen der Mitarbeit unter den gegebenen Bedingungen gesucht haben, als auch die, die damals offen gegen das System opponierten. Insbesondere 1990 kamen neue Mitglieder aus dem Demokratischen Aufbruch, der DSU, dem Neuen Forum oder in Dresden aus der Gruppe der 20 in die CDU.

Diese und viele Mitglieder – auch aus dem Westen – haben eine neue Partei entstehen lassen. Bei allen Unterschieden der Herkunft vereint uns das Bekenntnis zum christlichen Menschenbild. Wer sich hier nicht um Differenzierung zwischen der CDU als einem Teil des SED-Herrschaftssystems und den Mitgliedern bemüht, trägt nicht zum verantwortlichen Umgang mit unserer Vergangenheit bei. Ich weiß, dass das nicht einfach ist.

Ich meine und hoffe, dass diejenigen, die die DDR selbst erlebt haben, erkennen, dass es abwegig ist, mich nachträglich zum Unterstützer der SED-Diktatur und Befehlsgeber der Staatssicherheit zu machen. Jeder, der Fragen zu meinem Lebenslauf stellt oder gestellt hat, bekam und bekommt sie offen und ehrlich beantwortet – auf der Grundlage von Fakten und nach bestem Wissen und Gewissen.

Meine Geschichte ist mir sehr wichtig. Ich stehe zu jedem Punkt meiner Biografie und habe immer offen gesagt, wann ich was in meiner beruflichen Laufbahn getan habe. Ich bin betroffen, und es macht mich traurig, dass es Menschen gibt, die behaupten, ich würde meine Biografie beschönigen oder verschleiern.

Meine Funktion im Rat des Kreises Kamenz ist kein besonderes Ruhmesblatt in meiner Biografie. Heute würde ich mich anders entscheiden. Aber ich sage das als einer, der hinter und nicht vor den Ereignissen steht.