Karl Nolle, MdL
Frankfurter Rundschau, 02.05.2001
Rost am Goldenen Reiter
Zehn süße Jahre in Sachsen liegen hinter Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der Rest wird wahrscheinlich bitter
In Dresden macht man sich einige Sorgen, weil aus dem linken Hinterhuf des Goldenen Reiters seit ein paar Wochen ein rötlicher Saft tropft.
Ein Wahrzeichen der alten Elbestadt ist beschädigt. Seit 236 Jahren steht das Reiterstandbild des Sachsenkönigs August des Starken auf dem Neustädter Markt. Ein mächtiger Herrscher, voller Kraft und strahlend, blickt stolz auf seine Residenz. Und nun das Rinnsal aus Rostwasser. Das eiserne Gerüst, das das goldene Blech trägt, ist angegriffen. Womöglich braucht der Goldene Reiter ein neues Skelett. Sachsen demontiere seine Herrscher ungern selbst. Es sei denn, sie seien nicht mehr tragfähig, scherzt ein Denkmalschützer.
Kurt Biedenkopf regiert seit 1990 in Sachsen. Auch er ist ein goldener Reiter: Dreimal führte er die CDU zu glänzenden Wahlsiegen mit um die 55 Prozent der Stimmen. Als der Jura- und Wirtschaftsprofessor 1989 in Leipzig auftauchte, hatte er seine politische Karriere schon hinter sich: CDU-Generalsekretär unter Helmut Kohl, danach in der nordrhein-westfälischen Landespolitik gescheitert. Von Kohl und den Seinen auf null gebracht. 1990 begann Biedenkopfs wunderbarer Wiederaufstieg. Ministerpräsident in Sachsen, beste Popularitätswerte, höchstes Ansehen bundesweit. Landesvater, Anwalt der Ostdeutschen, "König Kurt". 1999 – die CDU versank im Spendensumpf – war ausgerechnet der Kohl-Verächter Biedenkopf als Retter im Gespräch.
Keine Skandale, keine Affären, Teflon. In manchen Ostländern ging es drunter und drüber, nicht aber in Sachsen. Fehler machten die anderen. An Biedenkopf blieb nichts hängen. Die Opposition aus PDS und SPD hatte längst aufgegeben und auf stille Bewunderung umgeschaltet.
Doch nun ist alles anders. Die sächsische Welt steht Kopf: Aus König Kurt ist eine Belastung für die CDU geworden. Von Starrsinn ist die Rede, davon, dass er wohl lieber alles in den Abgrund reiße als klein beizugeben. Längst werden alle möglichen Pläne zu seiner ehrenvollen Ablösung durchdacht. Soweit das überhaupt noch ehrenvoll zu machen ist. Was ist los am Hof, wie die Regierung gerne genannt wird? Es gibt eine "Putzfrauen- und Gästehausaffäre". Ein Anwalt hat Biedenkopf wegen Steuerhinterziehung angezeigt. Ein Landtagsabgeordneter zieht vors Verfassungsgericht. Der Rechnungshof untersucht das Geschehen in der Schevenstraße 1, dem Dienstsitz der Biedenkopfs im Gästehaus der Landesregierung.
Haben es sich die Biedenkopfs zu gut gehen lassen? Zu "schweinegünstiger" Miete gelebt? Mit Koch und Gärtner? Hat Gattin Ingrid, die das Regiment in der Dienstvilla führte, ordentlich abgerechnet? Wieso half ihr ein Bodyguard beim Einkaufen im Supermarkt? Wieso hat sie überhaupt einen Leibwächter? Welche Verwandten wohnten dort auf Staatskosten? Jeden Tag neue Fragen. PDS und SPD denken über einen Untersuchungsausschuss nach. Regierungsbeamte prüfen das Finanzgebaren in der Dienstvilla und wollen am heutigen Mittwoch ihre Resultate präsentieren. Die SPD-Opposition hat die wunde Stelle Biedenkopfs gefunden und wühlt darin herum. Die halbe CDU meutert. Die Bild-Zeitung bläst zum Angriff. Und der Ministerpräsident und seine Gemahlin sind seit Wochen verreist.
Es ist schon lange Rost am goldenen Reiter Biedenkopf. Kleine Rinnsale zwar, aber nicht zu übersehen. Was der 71-Jährige gerade erlebt, ist die typische Geschichte vom Verfall der Macht. Eine Geschichte aus Überheblichkeit und Sturheit, aus Realitätsverlust und Hilflosigkeit. Eine Geschichte, wie sie viele Spitzenpolitiker erlebt haben, die nicht den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören fanden und dann erschrocken und gedemütigt miterleben mussten, wie die eigenen Leute drängelten und schubsten. Biedenkopf hätte besser aufgehört, damals, 1998, nach der Bundestagswahl, so wie seine Frau es ihm geraten hatte. Aber 1999 trat er noch einmal an. Er siegte wieder grandios, doch danach brauchte ihn die CDU nicht mehr. Für eine Landtagswahl 2004, das war klar, steht Biedenkopf nicht mehr bereit.
Er war gewählt, aber sein gerne verwendetes innerparteiliches Druckmittel, die Rücktrittsdrohung, war weg. Einige Monate Schamfrist verstrichen, dann begann das Treten. Arnold Vaatz war der Erste. Der Dresdner Bundestagsabgeordnete verglich ihn mit Boris Jelzin, dem Trinker, der in Gutsherrenart seine Nachfolge regelte. Vaatz hatte die Melodie angestimmt, der CDU ging sie nicht mehr aus dem Ohr: die Nachfolge.
Nur Biedenkopf hörte nicht hin. Die CDU verlor trotz satter Mehrheit Abstimmungen im Landtag. Abgeordnete meuterten, wollten Biedenkopf ärgern und reagierten sich an dessen schwachem Statthalter, dem Fraktions- und Parteichef Fritz Hähle, ab. Aber Biedenkopf hörte die Melodie nicht. Immer mehr Rostwasser floss.
Biedenkopf machte Fehler und redete manchmal richtigen Unfug. Dass die Sachsen immun gegen rechts seien, zum Beispiel. Mit dem Landesdatenschützer Thomas Giesen lieferte er sich eine Vendetta, die darin gipfelte, dass er Giesen vorwarf, seinen "Lebensmittelpunkt" nicht in Sachsen zu haben. Ausgerechnet Biedenkopf, der, wie sich ja jetzt herausstellte, nur als Gast im Gästehaus der Landesregierung lebt. Mit dem Debattenbeitrag hatte er seine zur Hälfte aus dem Westen stammende Beamtenschaft zutiefst beleidigt und sich lächerlich gemacht. Viele kleine Rinnsale.
Ende Januar machte Biedenkopf seinen schlimmsten Fehler: Er demütigte und feuerte seinen besten Mann, den Finanzminister Georg Milbradt. Milbradt wäre der Nachfolger gewesen. Der Wirtschaftsprofessor hatte es gewagt, über 2004 und die Landtagswahl nachzudenken. Andere auch, sie wollten Hähle loswerden, der wie ein Pfropf jede Entwicklung verstopfte. Das war Majestätsbeleidigung, ein Angriff auf den Sonnenkönig. Und Biedenkopf wurde wie Kohl: Wer aufmuckt, wird klein gemacht.
Seitdem fließt das Rostwasser in Strömen. Biedenkopf war das Gerüst, nun trägt es nicht mehr und wird zur Gefahr. Die Autorität ist verloren. Biedenkopf hat Teile der CDU, die eine Perspektive haben wollten, in den offenen Widerstand getrieben. Und mit welchen Methoden.
Biedenkopf predigt gerne Wahrheit und Klarheit, greift aber im Notfall in die Kiste mit den schmutzigen Tricks. Er zitierte aus vertraulichen Gesprächen und kündigte der Fraktion seinen Rückzug Ende 2002/Anfang 2003 an, um Milbradt so kaltzustellen. Kaum war der Mann entlassen und Fraktionschef Hähle im Amt gerettet, gab Biedenkopf ganz anders klingende Interviews. Das Geschäft galt nicht mehr. "Brutalstmöglich an der Nase herumgeführt" fühlte sich ein Abgeordneter und sagte das auch öffentlich. Seitdem plaudern viele. Dient ja der Wahrheit und Klarheit, spotten CDU-Leute.
Eins kommt zum anderen. Eine CDU, die in großen Teilen dem König die Gefolgschaft verweigert und abwartet. Ein gefeuerter Minister, der ebenfalls abwartet und mit ziemlicher Sicherheit beim kommenden CDU-Landesparteitag im September um den Vorsitz kämpfen wird. Ein CDU-Chef Hähle, der den Überblick verloren hat. Und ein SPD-Abgeordneter namens Karl Nolle Biedenkopf-Hasser, der mit seinen Kleinen Anfragen im Dresdner Landtag die "Gästehaus-Affäre" ins Rollen gebracht hat.
Es ist Nolle, der für die Zuschauerriege aus der CDU den goldenen Reiter Biedenkopf demontiert. Er hat den Nerv getroffen: Er zielt auf Biedenkopfs Gattin Ingrid, die gerade pompös ihren 70. Geburtstag feiern ließ, auf ihr loses Regiment in der Dienstvilla und in ihrem Bürgerbüro. Wie das alles weitergeht? "In vier Wochen haben Sie nichts mehr zu schreiben", hatte Biedenkopf selbstsicher den Journalisten prophezeit, als er Milbradt gefeuert hatte.
Anfang Februar war das. Seitdem läuft die Geschichte seines Machtverfalls mit immer schnelleren Umdrehungen. Eine Geschichte, die sich längst selbst aus vielen Quellen speist, die nicht mehr zu stoppen sein dürften. Biedenkopfs Glanzzeit ist unwiederbringlich vorbei. Es gebe keine bedeutenden Aufgaben mehr für ihn, sagt ein Fraktionsmitglied. In der Landespolitik herrscht Stillstand, und bei Verhandlungen mit dem Bund über den neuen Solidarpakt oder den Länderfinanzausgleich gäben längst andere den Ton an. Das einzige, wozu man Biedenkopf in der CDU noch brauche, sei, einen vernünftigen Übergang zu organisieren, sagt ein Dresdner Christdemokrat. Man müsse es ihm nur noch beibringen.
(von Bernhard Honnigfort)