Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 04.07.2009

Der Getriebene

Ministerpräsident Stanislaw Tillich setzt die eigene Vergangenheitsbewältigung schwer zu
 
Seit seinem Amtsantritt kommt die Debatte um die DDR-Vergangenheit von Stanislaw Tillich (CDU) nicht mehr zur Ruhe. Foto: action press/Georg Nowotny
Er hat dieses Unbeschwerte verloren, sagen Freunde, die Stanislaw Tillich gut kennen. Die Leichtigkeit, die ihn unterschied von vielen anderen Spitzenpolitikern. Stanislaw Tillich, der Gute-Laune-Minister, wie ihn manche über Jahre kannten, locker, lustig, bis vor einem Jahr noch unbekümmert mit Kaugummi im Regierungsviertel unterwegs, immer einen Spruch auf den Lippen, ist ein Anderer geworden. Auch, wenn er gerade dies nicht wollte, als er vor rund einem Jahr quasi über Nacht in das Amt des Ministerpräsidenten hineinrutschte.

Doch aus dem „smarten Sorben“ ist ein Getriebener geworden, in eigener Sache. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Er ist wie in einer Schockstarre, meint ein Weggefährte. Er ist nicht k. o. geschlagen, aber noch immer wie gelähmt. Denn die Härte, mit der das Thema seit Monaten gespielt werde, habe Tillich völlig überrascht.

Er fühlt sich ungerecht behandelt, abgeurteilt vor allem von Westdeutschen. Dabei geht die Debatte längst nicht mehr um Tillichs politische und berufliche Tätigkeit in der DDR. Es geht um seinen Umgang damit, um seine Glaubwürdigkeit, die bröckelt, je länger er die ganze Wahrheit verschleppt. Doch diesen Unterschied scheint er noch nicht zu akzeptieren. Tillich will sich nicht rechtfertigen müssen für das, was er damals getan oder nicht getan hat. „Es ist Teil meiner Biografie“, sagt er auch über Enteignungen, die er damals als Ratsmitglied mitgetragen hat. „Ich stehe auch zu diesem Teil meines Leben“, sagt er trotzig, in einer Mischung aus Verärgerung, Enttäuschung, Verletztheit, vielleicht auch Scham.

Zwischen Trotz und Scham

„Jeder, der Fragen zu meinem Lebenslauf stellt oder gestellt hat, bekam und bekommt sie offen und ehrlich beantwortet – auf der Grundlage von Fakten und nach bestem Wissen und Gewissen.“ Das hatte Stanislaw Tillich noch im November versprochen. Doch damit war es schnell vorüber.

Spricht man ihn heute auf das Thema DDR-Vergangenheit an, scheint sich in Stanislaw Tillich ein Schalter umzulegen. Er macht dicht. Große Worte waren nie sein Ding. Tillich ist kein brillanter Rhetoriker, aber wenn er durchs Land fährt, mit Bürgern spricht, fällt es ihm leicht, den richtigen Ton zu treffen. Das ist seine Stärke. Nur in eigener Sache ist er wie gelähmt, gehemmt, fast sprachlos. Er stochert nach Worten, wenn man ihn auf das Biografie-Thema anspricht. Er versucht zu erklären, verhaspelt sich und verheddert sich hilflos, kaum ein Satz kommt gerade heraus, weil sich die Gedanken dahinter überstürzen. Der Blick ist wie erstarrt, reglos liegen dabei die Hände auf dem Tisch. Da sucht einer den Notausgang aus einer Dauerkrise, ist zu spüren. Aber er findet ihn nicht. Nun ist seine Biografie Tagesthema. Sie wird öffentlich dauerinterpretiert, gedreht und gewendet.

Dabei hatte Tillich sein Leben, vor allem sein Privatleben in dem kleinen Lausitzer Dörfchen Panschwitz-Kuckau, stets besonders geschützt. Keine „Homestorys“, keine Geschichte über die Familie oder seine Frau Veronika, mit der er seit rund 20 Jahren verheiratet ist. Nur selten Interviews, in denen er mal seine beiden Kinder erwähnt. Tillich, der Sorbe, lebt zurückgezogen, im gleichen Haus, das er seit Jahrzehnten bewohnt. Dort in Panschwitz-Kuckau ist er in diesen krisenhaften Tagen noch der, der er immer war.

Tillich, der Erfolgsverwöhnte, spürt seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr zum ersten Mal, wie scharf der Gegenwind wehen kann, wenn man ganz oben angekommen ist, wenn man in der ersten Reihe steht und jeder zuschaut, bei jedem Schritt, bei jedem Fehler. Zielstrebigkeit und Fleiß hatten ihn schon zu DDR-Zeiten weit nach vorn gebracht, bis zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreises in Kamenz, zuständig für Handel und Versorgung, bedeutsam im regionalen Machtgefüge.

Der Übergang in eine neue Zeitrechnung, ein demokratisches System, gelang ihm fast nahtlos. Erst ist er Europa-Abgeordneter in Brüssel, danach geht es für ihn als Europa-Minister, als Staatskanzlei-Chef, dann als Umwelt- schließlich als Finanzminister in Sachsen steil nach oben. Er steht mit an der Spitze, hält sich aber vorsichtig immer ein wenig in der zweiten Reihe. So gelingt ihm auch der Übergang vom „Biedenkopf-Ziehkind“ zu Georg Milbradt.

Tillich bekommt immer wieder ein bisschen mehr Verantwortung, es ist ein leise-behutsamer Aufstieg. Irgendwann gilt er als einer der drei „Kronprinzen“ für die Nachfolge des angeschlagenen Georg Milbradt. Doch da ist immer ein kleiner Schatten, der Tillich zu hemmen scheint; auch, als es in jener legendären „Pappritzer Nacht“ im Haus von Milbradt um dessen Nachfolge geht. Schnell wird klar, dass Tillich die Rolle des Regierungschefs übernehmen soll. Doch zuerst will er nicht. In dieser Nacht ruft Tillich seine Frau an und spricht mit ihr über das plötzliche Job-Angebot. Er ahnt, dass dann auch wieder die alten Geschichten aus der DDR hochkommen werden, dass auch seine Familie mit hineingezogen werden könnte. Das bespricht er auch mit den anderen versammelten CDU-Größen. Dann erst sagt er Ja.

Verschanzt in der Staatskanzlei

So wird Tillich nach 1989 der erste Sachse, der Sachsen führt. Er ist kein Ministerpräsident, der als weißer Ritter daherkommt. Tillich war zu DDR-Zeiten kein Widerstandskämpfer, keiner, der wie manch anderer CDU-Politiker damals im Gefängnis saß. Der Katholik Tillich bringt ein Leben mit, eine Karriere im DDR-System, eine grau schraffiertes Lebenstagebuch wie viele andere.

Am Mittwoch wollte Tillich im kleinen Kreis vor Journalisten erklären, dass er in seinem Personalbogen die Frage nach dienstlichen Stasi-Kontakten verneint hat. Es rutscht ihm holprig, fast nebenbei, fast wie versehentlich heraus. Dabei hatte Tillich monatelang vor Gericht gekämpft, um sein Recht auf Schweigen in dieser Frage durchzusetzen. Die Stasi-Frage danach sei „irrelevant für die Glaubwürdigkeit des Ministerpräsidenten“, hatten Tillichs Anwälte noch wenige Tage zuvor der Tageszeitung „Die Welt“ geschrieben.

Tillich bleibt dabei: Er habe seinen Fragebogen richtig ausgefüllt, als er Nein ankreuzte bei der Frage nach dienstlichen Stasi-Kontakten. Die wären an sich nichts Schlimmes gewesen, denkt sich da der „gelernte DDR-Bürger“ – und wundert sich. Angesprochen wurden doch viele. „Tillich hätte das doch alles schon vor einem halben Jahr sagen können“, meint einer von seinen Widersachern. „Dann wäre das Ganze schon längst erledigt.“

Vermutlich würden viele Sachsen Tillich sogar noch viel mehr verzeihen. Doch Tillich hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, die ganze Wahrheit zu sagen. Stattdessen verschanzt sich der 50-Jährige in dieser Frage hinter seiner Staatskanzlei. Selbst, wenn es Krisen-Strategien gibt – Tillich scheint sich nicht für eine entscheiden zu können. Die Abwehr-Regie führen Rechtsanwälte. Die Schlacht über die Wahrheit wird vor Gericht ausgetragen. So nährt Tillich selbst den Verdacht, dass es da noch mehr zu verbergen geben könnte.

Dabei hat der junge „Sachsen-König“ mitten in seiner eigenen Krise die größte Bewährungsprobe noch vor sich. Es ist Wahlkampf. Und die CDU hat die nächsten knapp 60 Tage bis zum Wahltag ganz auf seine Person zugeschnitten. Stanislaw Tillich ist selbst Wahlkampfthema. Nun muss er bei all seinen öffentlichen Auftritten irgendwie darüber hinweglächeln.
Von Annette Binninger