Frankfurter Rundschau, 17.04.2002
Der Mann, der zu viel wusste
Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf tritt zurück - nach zehn goldenen und eineinhalb Albtraumjahren
DRESDEN. Vor einer Woche kam Kurt Biedenkopf von einem Ausflug in die Sächsische Schweiz zurück. Er hatte einen Drehtermin mit dem ZDF. Ein frischer Frühlingstag, das Wetter schön und Biedenkopf abends bester Laune. Die Luft hatte ihm gut getan. Sein Gesicht hatte Farbe bekommen. Er trug einen unauffälligen Anzug mit hellem Hemd, aber keine Krawatte und wirkte wie ein gewitztes altes Bäuerchen. Auf der Bastei, dem berühmten Aussichtspunkt Sachsens, hoch über Elbe und Sandsteinfelsen, hatte er sich filmen lassen. "Das war gut. Das war richtig gut", sagte er zufrieden.
Fernsehbilder für den Abschied, für den Sonnenuntergang. Die Schlussszene einer langen Laufbahn. Natürlich ohne Krawatte, denn so machen es Politiker gerne, wenn es locker und nach einer von uns aussehen soll. Wenn aus Professor Dr. Kurt Hans Biedenkopf, Ministerpräsident von Sachsen, Jurist und Wirtschaftsexperte, ein freundlicher älterer Herr von 72 Jahren werden soll, dem alle Sachsen am Ende seiner Regierungszeit versöhnlich eine Träne nachweinen: "Ach, war doch gut, dass er da war, der kleine König."
Kurt Biedenkopf hat viele Gesichter. Am heutigen Mittwoch hält er seine Abschiedsrede im Landtag. Biedenkopf wird, so viel ist schon gewiss, als der blitzgescheite Professor auftreten. Als der Vordenker und scharfe Analytiker, der es schon immer besser wusste als alle anderen Politiker in Deutschland. Der schon vor sieben Jahren wusste, dass es mit der Arbeitsverwaltung in Deutschland so nicht weitergehen kann. Der Bundeskanzler Schröder schon vor vier Jahren vorschlug, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen. Der sich seit 15 Jahren den Mund fusselig redet, dass es mit der Altersversorgung so nicht weitergehen kann. Der es schon immer wusste, aber auf den niemand gehört hat. Abrechnen will er und den ewige Versagern von damals in Bonn und jetzt in Berlin die Leviten lesen. Was hätte aus Deutschland werden können, hätte es auf Biedenkopf gehört?
Elfeinhalb Jahre hat Biedenkopf in Sachsen regiert. Wie ein Sonnenkönig. Es war seine beste Zeit als Politiker. Vorher, als CDU-Generalsekretär unter Helmut Kohl und kurz danach in der nordrhein-westfälischen CDU ist er immer schnell aufgestiegen und bald abgestürzt. Ein Eigenbrötler, als Querdenker gelobt, weil er sich nicht dem CDU-Mainstream einfügte. Ein Modernisierer und Think Tank auf zwei Beinen, ein Kopfmensch, hochmütig, brillant und arrogant, der nicht mit Menschen umgehen konnte und irgendwann immer vom Bauchmenschen Kohl ins Aus geschubst wurde. Einer, der immer scheiterte. Als er 1990 nach Leipzig an die Universität ging und dort Wirtschaftsvorlesungen hielt, war er 59 Jahre alt und als Politiker erledigt. Sachsen sollte sein Glück werden.
Kurt Biedenkopf hat viele Gesichter. In Sachsen wurde ausgerechnet er, der mehr von verkrusteten Sozialstrukturen als lebendigen Menschen versteht, zum Landesvater. Die CDU hatte ihn mangels geeigneter Konkurrenten 1990 zum Spitzenkandidaten gemacht. Und Biedenkopf, der seit einem halben Jahr die Ostdeutschen, ihr Denken und Fühlen kennen gelernt hatte, fand den richtigen Ton: keine blühenden Wiesen und plumpen Wohlstandsversprechungen. Er lobte die Sachsen, packte sie beim Stolz, erinnerte an tausendjährige Kultur und ruhmreiche Industriegeschichte, machte Mut, verschwieg aber auch die aufziehende Arbeitslosigkeit nicht. Er war ein geschickter Psychologe, nahm die nach Orientierung suchenden Ostler an die Hand und führte sie durch die unübersichtliche neue Zeit.
Biedenkopf war ein erfolgreicher Wirtschaftspolitiker. Er holte bedeutende Investoren nach Sachsen: Siemens, AMD, Volkswagen, BMW, Porsche. In anderen Ostländern ging es drunter und drüber, die Ministerpräsidenten kamen und gingen - nur Biedenkopf und der Brandenburger Manfred Stolpe blieben. Biedenkopf machte sich zum Anwalt der Sachsen. Er focht in Bonn und Berlin für den Solidarpakt mit dem Osten und gegen Brüssel um Subventionen. Über die Jahre war er "König Kurt" geworden, der gute Regent, der sich um die Seinen kümmerte. Die Sachsen dankten es ihm mit drei überwältigenden Siegen bei Landtagswahlen: 53, 58 und 56 Prozent im Jahr 1999. In Umfragen lag er stets an der Spitze. Er war der mit Abstand beliebteste Politiker. Zehn Jahre lang. Dann begann ein Jahr, über das er heute kein Wort mehr reden mag.
Warum ist er am Ende wieder gescheitert? Biedenkopf wusste immer, was andere falsch machen. Er hatte immer Recht. Mit sich ging er pfleglicher um. 1990 hat er ein Buch geschrieben: "Zeitsignale". Eine scharfsinnige Analyse über das Versagen und die neuen Herausforderungen der Volksparteien. Die CDU in Sachsen allerdings, der er bis 1995 vorstand, hat Biedenkopf zu einer politischen Sättigungsbeilage verkommen lassen. Wozu eine lebendige, funktionierende Partei, wenn es einen Biedenkopf als Ministerpräsidenten gibt, der allein 20 bis 30 Prozent Bonus bringt? Wozu Diskurs, wenn einer alles weiß? Frischer Wind war unerwünscht.
Mehrheiten, so Biedenkopf in "Zeitsignale", neigten dazu, Anpassung zu belohnen, nicht Widerspruch. Wer in Sachsens CDU Widerspruch wagte, bekam zu hören: "Sie wissen doch, wem Sie es zu verdanken haben, dass Sie im Landtag sitzen." Das Zitat ist verbürgt, ebenso die Tatsache, dass Biedenkopf oft mit Rücktritt drohte. Die Zeitsignale, die ihn betrafen, hat er überhört: Den Ärger in der CDU über seinen blassen Statthalter, den Fraktions- und Parteivorsitzenden Fritz Hähle. Den Frust der von ihm entlassenen Minister. Den Unmut derjenigen, die wissen wollten, wie es nach ihm weitergehen wird. "Dank ist keine politische Kategorie", pflegt Biedenkopf zu sagen. Beherzigt hat er es nie.
Nur einer konnte Biedenkopf stürzen: Biedenkopf. Als er Anfang vergangenen Jahres Georg Milbradt als Finanzminister entließ, weil der von Intrigen gewusst haben soll, war das der Anfang vom Ende. Ironie der Geschichte: Er wollte einen Thronfolger aus dem Feld räumen und baute ihn erst richtig auf. Dann begann das Frühjahr der Skandale: Der SPD-Abgeordnete
Karl Nolle durchwühlte Biedenkopfs Hofstaat, dessen Leben im Gästehaus der Landesregierung. Die Biedenkopfs hatten es sich zu gut gehen lassen mit Köchen, Gärtnern und Putzfrauen auf Staatskosten. Die Miete war unverschämt niedrig, Dienstfahrten von Ingrid Biedenkopf stellten sich als zweifelhaft heraus. Am Ende eines quälenden Sommers verlangte das Finanzministerium etwa 61 300 Euro Rückzahlung von Biedenkopf. Schließlich kauften die beiden bei Ikea ein und pressten dem Möbelhaus einen Rabatt von knapp 68 Euro ab. Von da an war es nur noch peinlich.
Kurt Biedenkopf hat viele Gesichter. Schuld haben immer andere. Fragt man ihn nach eigenem Versagen, antwortet er, er habe den Fehler gemacht, anderen zu vertrauen. Er habe dem Chef der Staatskanzlei vertraut, dass der sich um Dinge wie Biedenkopfs Mietangelegenheiten kümmere. Chef der Staatskanzlei war jahrelang Günter Meyer, ein alter Weggefährte Biedenkopfs. Meyer hat für Biedenkopf die Drecksarbeit gemacht. Seit vier Jahren ist er Pensionär. Aber als Sündenbock taugt er noch immer.
Nach seinem Ausscheiden wird Biedenkopf bis 2004 Landtagsabgeordneter bleiben. Vermutlich wegen der Diäten, vermutlich aber auch, um zu beobachten, was aus Milbradt wird, dessen Aufstieg er nicht ertragen hat. Biedenkopf wird Bücher schreiben, in der ganzen Welt Vorträge halten und an Universitäten lehren. Und wahrscheinlich, da ist man sich in der CDU sicher, wird er zwischendurch alles tun, um dem ungeliebten Milbradt das ohnehin nicht leichte Leben in seinem Schatten noch eine Spur schwerer zu machen.
Kurt Biedenkopf hat viele Gesichter. Wenn er sein Büro räumt, will er drei Landkarten mitnehmen. Sie zeigen die sächsischen Wahlkreise nach den Landtagswahlen 1990, 1994 und 1999. Blau für die CDU, rot für die SPD. Alle Karten sind blau, restlos blau. Biedenkopf erzählt das bestimmt nicht zufällig. Er lächelt. Vielleicht denkt er dabei an seinen Nachfolger.
(Bernhard Honnigfort)