Süddeutsche Zeitung, 30.04.2001
Kopfschütteln über einen missmutigen Regenten
Kurt Biedenkopf gerät in Sachsens CDU nicht nur wegen der Affäre um seinen Wohnsitz immer stärker unter Druck
Dresden , 29. April – Der sächsische Abgeordnete Karl Nolle ist unübersehbar umfangreich. Er misst, um es genau zu sagen, oberhalb des Hosenbunds glatte 138 Zentimeter. Mit solchen Ausmaßen kann man nicht in jedem Versandhauskatalog Oberhemden bestellen, aber doch heiter durch das Leben kommen. Des Sozialdemokraten Nolles mächtiger Umfang wäre auch unerheblich, hätte nicht der Sprecher des sächsischen Ministerpräsidenten ihn zur Maßeinheit erklärt – um jene Enge deutlich zu machen, die bei Biedenkopfs daheim herrschen soll. Wer bei Ingrid und Kurt Biedenkopf zu Besuch sei, müsse sich unheimlich schlank machen, um überhaupt zwischen Sofa und Bücherregal durchzukommen, wollte Biedenkopfs Sprecher Michael Sagurna unlängst der Öffentlichkeit weismachen. In dieser Gedrängtheit hätte der Herr Nolle, der ja besonders gern meckere, Schwierigkeiten, Platz zu finden.
Vier Zimmer haben die Biedenkopfs demgemäß im Gästehaus der Regierung, wo sie seit zehn Jahren wohnen. Was die Fläche angeht, wollte Sagurna sich nicht auf den Quadratmeter festlegen. Es seien aber deutlich unter hundert, erklärte er. Sein Tonfall entsprach dabei dem Gestus einer wegwerfenden Handbewegung, mit der man lästige Fliegen verscheucht. Nur wenige Minuten später blätterte der Regierungssprecher beiläufig in Unterlagen und entdeckte einen Grundriss. Kurz schwieg er, rechnete – und eröffnete den Journalisten dann, dass es ungefähr 150 Quadratmeter seien, die der Ministerpräsident und seine Frau bewohnen. Es ist also wohl doch nicht so eng. Erst jetzt brach die Heiterkeit aus, die Michael Sagurna so gern auslösen wollte. Und aus den Fliegen, den ungefährlichen, wurden – wenn man dem Bild eines führenden Dresdner Christdemokraten folgen will – Piranhas, die Blut geleckt haben.
Dieser Parteifreund beschreibt Biedenkopfs Situation so: „Du kannst ohne Sorgen im Becken voll Piranhas schwimmen gehen, so lange kein Blut im Wasser ist. Aber jetzt ist Blut im Wasser.“ Der Mann denkt vor allem an sozialdemokratische Oppositionspolitiker wie Karl Nolle und an die Presse. Seit Wochen tauchen immer neue Enthüllungen auf, und alle führen zu einer Frage: Haben Ingrid Biedenkopf und ihr Mann, der sächsische Ministerpräsident, nach außen aufopfernde Bescheidenheit demonstriert, sich tatsächlich aber auf Staatskosten einen luxuriösen Lebenswandel gegönnt? Gefragt wird nach Flügen mit Polizei-Hubschraubern, die Ingrid Biedenkopf privat in Anspruch genommen haben soll, etwa für einen Krankenbesuch. Leibwächter trügen ihr den Einkauf hinterher, wird kolportiert. Das hat den einstigen Innenminister Heinz Eggert zu der Bemerkung veranlasst, dass die Bewacher im Ernstfall nicht ihren Job machen könnten, weil sie – die Tüten in der Hand – nicht an die Pistole kämen.
1851 DM Monatsmiete
Vor allem beschäftigt die Opposition der Wohnsitz des Ministerpräsidenten in der Schevenstraße auf dem Dresdner Elbhang. Sie argwöhnt, dass die Biedenkopfs auf Staatskosten billig wohnen und quasi kostenfrei von Koch, Putzfrau und Gärtner umsorgt würden. Für 155 Quadratmeter, Küche und Flur nicht eingerechnet, zahlt das Paar – so der letzte Stand der Erkenntnisse – 1851 Mark Miete im Monat.
Beklommen blickt die CDU dem kommenden Mittwoch entgegen. Dann soll eine Arbeitsgruppe, die von der Regierung eingesetzt wurde und aus hohen Beamten der Staatskanzlei und des Finanzministeriums besteht, ihren Bericht zu den Verhältnissen in der Schevenstraße vorlegen. Dazu soll ein Gutachten gehören, das die Angemessenheit der Miete prüft, außerdem eine Liste jener zahlreichen Gäste, die seit 1990 im Gästehaus logierten.
In den ersten Jahren nach der Wende von 1989 wohnten dort viele Minister und Staatssekretäre des neuen Freistaates Sachsen. Ingrid Biedenkopf beherberte aber lange auch enge Verwandte – ihre erwachsenen Kinder und offenbar auch ihre eigene Mutter. Der ausgedehnte Komplex gehört zwar dem Staat, doch über seine Nutzung entschied die Gattin des Regierungschefs mit strengem Regiment. „Sie hatte eine gewisse Einteilungsfunktion“, umschreibt das der Regierungssprecher. Andere frühere Bewohner formulieren drastischer. „Wir hatten damals das Gefühl, wir wohnten bei ihr, und nicht beim Staat“, erinnert sich einer. Ingrid Biedenkopf blockierte nach Erkenntnissen der SZ in den Anfangsjahren Prüfungen der Behörden und wollte Besichtigungen nicht hinnehmen. Dabei sind auch die Biedenkopfs vom Status her nur Gäste auf dem Elbhang. So erklärte es jedenfalls der Chef der Staatskanzlei unlängst dem Landtag, um die großzügige Betreuung zu rechtfertigen.
Derzeit beschäftigt sich auch der Sächsische Rechnungshof mit den Vorgängen. Die Union sucht unterdes nach undichten Stellen, aus denen die Enthüllungen ständig Nahrung erhalten. Am Rande einer Landtagssitzung lenkten Vertraute Biedenkopf, wie aus Parteikreisen bekannt wurde, gezielt den Verdacht auf den früheren Finanzminister Georg Milbradt. Als der davon erfuhr, stellte er den einstigen Freund wutentbrannt vor eine Alternative: Biedenkopf sollte seine Gerüchteküche schließen, andernfalls wollte Milbradt seine Sicht der Dinge bekanntmachen.
Der Ministerpräsident ist auch für seine Anhänger unberechenbar geworden, seitdem er Milbradt aus Furcht um die eigene Macht entließ. „Alles ist möglich“, sagen Christdemokraten – und manche scheinen eben dies zu hoffen. Schon für Mittwoch wird nichts ausgeschlossen, nicht einmal der Rückzug des Regenten.
Monarchischer Habitus
Manche Christdemokraten sehen Biedenkopf inzwischen als Belastung für die Partei, und dies nicht allein wegen der Affäre um den Wohnsitz. Der Streit über die Nachfolge des langjährigen Ministerpräsidenten lähmt die Union. Jeder Vorstoß wird nur noch als Schachzug im Nachfolgekampf verstanden. Auf diesem Nährboden ist es leichter als je zuvor, Einzelheiten über den Lebenswandel der Biedenkopfs zu erfahren.
Den Unmut in der Partei hat der Ministerpräsident noch verstärkt, als er Kritik mit monarchischem Habitus zurückwies. „Muss ich mir das anhören?“, fragte er in Sitzungen. Kopfschütteln lösen auch Versuche aus, frühere Aussagen vergessen zu machen. Im Januar kündigte Biedenkopf an, dass er 15 Monate vor Ende der Amtszeit zurücktreten werde. Er wollte einem Nachfolger Zeit geben, sich einzuarbeiten. Jetzt beharrt er darauf, im Konjunktiv gesprochen zu haben: Unter Umständen würde er vorzeitig gehen. Er empfindet es gar als Affront, wenn Parteifreunde ihn an die Ankündigung erinnern, die durch ein Protokoll belegt werden kann. Voller Sarkasmus amüsieren sie sich, dass es schon verboten sei, den Meister zu zitieren.
Auch Versuche, Einigkeit zu demonstrieren, dokumentieren nur die Spaltung der führungslosen Partei. Animiert aus Dresden wollten Vorsitzende einiger Kreisverbände ihre Solidarität mit Biedenkopf bekunden. Nur 16 von 27 Kreisverbänden mochten mitmachen. Selbst der Biedenkopf-treue Parteichef Fritz Hähle hat registriert, dass ein Riß durch seine CDU geht. „Wir müssen vermeiden“, warnt dessen Stellvertreter Heinz Eggert, „dass der Eindruck entsteht: Die CDU ist ein treibendes Floss, auf dem das Hauen und Stechen begonnen hat.“
Allenthalben wird über Nachfolger spekuliert, mit denen man Biedenkopf den schnellen Abgang schmackhaft machen könnte. Allerlei Namen werden gehandelt, auch der der CDU-Chefin Angela Merkel. Doch da winken die meisten Sachsen ab: Merkel würde als Fremdkörper empfunden. Jüngere Minister aus Biedenkopfs Kabinett erscheinen als blasse Notlösung, sobald sie an Milbradt gemessen werden. Der hält sich derweil fern vom Kampfgeschehen. Mit keinem Wort will er die Eskalation kommentieren, unterdes baut er seine Stellung mit Reisen zur Basis aus. Längst gilt Milbradt in der Partei als so stark, dass keine Lösung der Führungskrise gefunden werden kann, ohne ihn einzubeziehen.
Im September wird ein neuer Landesvorsitzender gewählt. Dort könnte Milbradt die Konfrontation suchen. Wenn bis dahin Zeit ist. Der Sozialdemokrat Nolle hat angekündigt, dass er noch viele Fragen zum Leben der Biedenkopfs in Dresden habe - und nicht nur zum Abstand zwischen Sofa und Bücherregal. .
(von Jens Schneider)