SAX Dresdner Stadtmagazin Nr.12/2014, 01.12.2014
Wende-Ende, Ver-Kohlung und BRDigung
Der Dresdener 19. Dezember 1989 ging per Helmut-Euphorie in die Geschichte ein – doch gegen die Politikfarce gab es humorvollen Widerstand mit Gefahr.
Helmut Kohl soll nach Dresden kommen und zwar zum dritten Mal an einem 19. Dezember -, wohl für all jene, die die ersten beiden Auftritte verpassten. Was baldige Rückblicke vergessen könnten zu erwähnen: Der erste war eine grandiose Inszenierung der Bonner Politikstrategen.
Nun droht Dresden die zweite Nachstellung des historischen Ereignisses, die Befindlichkeit des Altkanzlers und das Niveau der Debatte um seine Verdienste verbietet ironische Anmerkungen und macht auch jedweden Protest gegen die Neuauflage 2014 hinfällig. Zumal es das Brimborium schon einmal gab: anno 2000, auf Einladung der Stadt-CDU, vor zehntausend Wendegewinnern. Doch es lädt ein zur Erinnerung an einen historischen Tag innerhalb der gern als friedlich erklärten Revolutionszeit vor einem Vierteljahrhundert, in der innerhalb eines Dreivierteljahres nahezu alle persönlichen Dokumente eines Landes wertlos und jede Biografie umgeschrieben oder gebrochen wurde. Es war dennoch eine kurze Phase, die kaum jemand im eigenen Erfahrungsschatz missen mag.
Helmut in Not trifft Hans ohne Glück
Eigentlich war es »nur« ein offizieller Staatsbesuch in Dresden, in dem über einen Grundlagenvertrag im Sinne der Stabilisierung der inneren Lage der DDR verhandelt wurde und in dessen Rahmen eine offizielle Kranzniederlegung vor der Ruine der Frauenkirche - damals noch Antikriegsdenkmal »in der Erinnerung an das Leid und die Toten dieser wunderschönen alten deutschen Stadt« statt wie bislang der »Opfer des Faschismus« - erfolgen sollte. Doch Kohl brauchte, so kann man jenseits der fleißigen Biografenergüsse in historisch-politologischen Kontexten nachlesen, schnelle Erfolge-vor allem nach dem Berliner Pfeifdesaster am Schöneberger Rathaus am 10. November und der demoskopischen Hiobsbotschaft per ZDF-Politbarometer, nach der noch Mitte Dezember 1989 rund 70 Prozent der DDR-Bürger für einen souveränen eigenen Staat plädierten.
So wurde der frische DDR-Ministerpräsident Hans Modrow mit dem Redewunsch übertöpelt, hunderte Animateure angeheuert, die mit dem Rücken zur Tribüne mit einstudierten Sprechchören die Rede untermalten, während. der gemeine Ossi die massenweise verteilte nagelneue BRD-Fahne als Dank fürs Begrüßungsgeld hübsch schwenkte. Ob es zwanzig- oder vierzig- bis fünfzigtausend Leute waren, die teilweise mit Sonderzügen anreisten, lässt sich heute nicht mehr nachweisen. Ich erinnere mich an viel Platz zwischen den Grüppchen und unterschiedliche Stimmungslagen: einerseits tumber rheinischer Karneval, aber auch echte Hoffnung; andererseits echter Zweifel und tiefe Verachtung für das neuartige Schauspiel, welches den Wendehals als geschützte Wählerart offenbarte. Die Regie und die Quellenlage lässt sich gut bei Markus Driftmanns Betrachtung dieser Art von symbolischer Politik (»Mythos Dresden«, Netzquelle ganz unten) nachlesen. Zwanzig Jahre später ist man halt schlauer, obwohl die Helden und Organisatoren sich bis heute nicht (und wohl nie) über die Hintergrundaktivitäten auslassen. Damals sprachen die Medien - rund 1.500 internationale Journalisten hatte die Propagandamaschine mobilisiert - gar von 100.000 Menschen (und vergaßen die Zweifler und Störer), obwohl diese Zahl nachweislich dort nicht hinpasste, weil ja seit dem Krieg nicht ordentlich aufgeräumt wurde, dort vorm Luther.
Die Weltpolitik war von der wohlgeschliffenen 10-Minuten-Rede Helmut Kohls bei milden zehn Grad plus und dem schlecht ausgeleuchteten Jubel der Massen begeistert, in der ein Satz im Nachhinein als bedeutend gilt: »Und auch das, lassen Sie mich hier auf diesem traditionsreichen Platz sagen: Mein Ziel bleibt - wenn die geschichtliche Stunde es zulässt - die Einheit unserer Nation.« Aber Kohl sagte auch: »Das "Haus Deutschland" - unser Haus muss unter einem europäischen Dach gebaut werden. Das muss das Ziel unserer Politik sein.« Er sprach ebenso von Konföderation (statt Anschluss), und er hatte schon damals einen Tipp für Gaucks Rede am jüngsten Weltfriedenstag auf der Westerplatte: »Ich hatte dann die Chance, "drüben", in meiner pfälzischen Heimat, groß zu werden, und ich gehöre zu jener jungen Generation, die nach dem Krieg geschworen hat - wie hier auch: "Nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt!" Und ich möchte hier vor Ihnen diesen Schwur erweitern, indem ich Ihnen zurufe: Von deutschem Boden muss in Zukunft immer Frieden ausgehen - das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!« Das kam damals gut in Dresden doch der gegenwärtige BuPrä vergaß das in noch nicht des Krieges benachrichtigt das ist nicht lieferbar und weisen sie dabei sinkende Willen des Konto seiner jüngsten Politpredigt schlichtweg.
Aber auch Kohl vergisst schnell und keineswegs unbewusst: Schon im Januar wollte er nicht mehr mit Modrow, ab Februar nicht mit den ostdeutschen Bürgerbewegten auf gemeinsame Pressefotos. Und was medial vergessen ward: In Ostberlin versammelte sich gleichzeitig zur Kohl-Rede die doppelte Anzahl Menschen, um gegen den Kohl-Besuch und den Anschluss zu demonstrieren: Dabei waren nahezu alle DDR-Untergrund-Organisationen, die aktiv zur Wende beitrugen, so auch Demokratie jetzt, Kirche von unten oder die Initiative für Frieden und Menschenrechte sowie auch die leider nur kurzzeitig einflussreiche Künstlerinitiative »Für unser Land«. Ihr Anliegen: gegen raschen Ausverkauf und Wiedervereingung, eine selbstverwaltete Gesellschaft, Teilhabe und Verantwortung für alle - zusammengefasst: keine »Kohlonie«. Federführend auch dabei: Die nagelneue Vereinigte Linke (VL).
Deren Dresdner Gruppe sorgte für die eigentliche Überraschung und Belustigung des Tages: In der ganzen Stadt hingen Plakate, Flugblätter - einige Eigenschöpfungen, andere solidarisch gedruckt vom Westberliner »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen« und voller Prognosen zu Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Benachteiligung Ostdeutscher, die in den Folgejahren mehr als bestätigt wurden - steckten in fast allen Neustädter Briefkästen. Und es gab eine offensive Demonstration vor Ort gegen Kohl, die durchaus Gefahren mit sich brachte, weniger durch die anwesenden Neonazis mit schicken neuen Bomberjacken, sondern durch aufgeputschte DDR-Bürger mit Wunsch nach Konsum- und Reisefreiheit und dem Drang, diesen wenn nötig handgreiflich zu verdeutlichen.
Im knallroten Kugelblitz die Stadt plakatiert
Bernhard Theilmann war damals im VL-Sprecherrat und schildert die Organisation des Protestes: »Wir wären damals die stärkste Ortsgruppe in der ganzen DDR.« Hundert Leute, davon 30 echt aktive, machten die Nacht zuvor zum Tag: »Von Cossebaude bis Niedersedlitz hingen am Morgen unsere Plakate«, freut er sich noch heute über den Einsatz. Dabei konnten sie erst spät in der Nacht damit anfangen. »Die Gefahr, dabei von Neonazis überfallen und verprügelt zu werden, war einfach zu virulent«, erklärt er die Begleiterscheinungen der wilden Phase. Und nur einen Wagen hatten sie dafür: Er selbst habe sich den knallroten Kugelblitz, einen runden -Trabant aus den Sechzigern, von seinem Sohn geborgt.
Doch was wollte diese Vereinigte Linke? Angela Stuhrberg: »Wir waren eben erst die Politgreise an der Spitze des Staates losgeworden, hatten die vielleicht naive Hoffnung auf Veränderung, auf Selbstbestimmung. Sich Hals über Kopf einem neuen Heilsbringer anzubiedern fanden wir so unnötig wie beschämend.« Ihr Mann, Uwe Stuhrberg, ein Jahr später schon gemeinsam mit Theilmann Chefredakteur dieses Stadtmagazins, ergänzt: »Wir wollten wirklich anfangs nur eine bessere DDR, mit echter Presse- und Meinungsfreiheit.« Doch auch für sie wurde der Tag, als sie angepöbelt und beleidigt wurden, zur wichtigen Erfahrung. »Ein paar Monate, bis zur ersten Wahl am 18. März, bei der die VL immerhin eine Kandidatin in die Volkskammer brachte, war noch eine vage Hoffnung, danach waren letzte Wendehoffnungen auf politische Erneuerung vorbei«, sagt Stuhrberg heute. Im Gegensatz zu anderen Bekannten überstanden sie den Tag unversehrt.
Mit dabei waren auch Heiko Dachse! und Andrej Krabbe, heute beide Geschäftsführer einer bekannten Dresdner Werbeagentur, die sich damals um Gestaltung und Siebdruck von, hunderten Plakaten, meist lustig und gut gemacht, kümmerten. Auch bei ihnen ist die Erinnerung an den Abend mittlerweile leicht von Wichtigerem überlagert, auch sie kamen heil aus der Menge, für beide war es ein Schlüsselerlebnis, dass es wohl auf demokratischem Wege nicht anders ging als auf dem Trip zur schnellen Einheit.
Ronald Weckesser, ein echter Reformer der heutigen Linken, Jahrgang 1948 und Entwicklungsingenieur bei Robotron, saß damals daheim vorm Fernseher. »Wir haben lange diskutiert, ob wir hingehen sollten, einige waren auch da. Aber letztlich überwog unsere Angst vor Eskalation. Vielleicht war es ein wenig feige, aber einhundert Störer mehr hätten Kohl auch nicht gebremst.« Er war damals schon ein Vierteljahrhundert Genosse ohne Funktion im Parteiapparat, aber wollte das sinkende Schiff nicht einfach verlassen. So gehörte er im Herbst '89 zur Dresdner »Initiativgruppe zur revolutionären Erneuerung der SED« und wollte Ähnliches wie die Vereinigte Linke erreichen, nur innerparteilich. Doch auch ihm war die Bedeutung der Bilder klar: »Modrow wirkte neben dem großen, kräftigen Kanzler schon schmächtig und blass«, sortiert er heute das wohlinszenierte faktische Ende des von Modrow verfolgten »Dritten Weges« ein. Doch wo, so verweist er auf die umliegenden einstigen Bruderstaaten, habe ein solcher wirklich funktioniert?
Im Sauseschritt vom Stalinismus zum Kapitalismus
Während die meisten am 19. Dezember recht gut davonkamen, hat Bernhard Theilmann, damals 40 Jahre stark, echt zu kämpfen. Er hatte sich - mangels besserer Idee - ein Schild gebastelt: »Vom Stalinismus zum Kapitalismus - ohne mich!« Zu subtil für etliche »Helmut-Helmut«-Gröhler. Ein weitaus älterer Lehrer schrie ihn an, dass er wegen solcher Typen wie ihm zwanzig Jahre lang seine Schüler hätte belügen müssen.
Die Aggressivsten im Mob waren aber- und das bestätigen alle - nicht die Jungnazis, sondern der Typus spießiger Nachbar, gern mit Vokuhila und Schnauzer. Eine Dame im edlen Pelz bellte gar: »Wir haben die Hungerlöhne satt« »Ich sagte nur, dass man ihr das Leid durchaus ansehe - darauf mussten auch die anderen Umstehenden lachen«, erzählt Theilmann heute gelassen die Anekdote. Dabei drohten ihm einige gar an, ihn in die Elbe zu schubsen. Theilmann entging samt Frau entschlossen dem Kohl-Fanpulk, aber drehte sich auf der Brücke auf dem Weg in die alternative Neustadt noch oft unauffällig nach Verfolgern um. Doch diese sangen alle gemeinsam »So ein Tag, so wunderschön wie heute ...«
Ronald Weckesser ist auch heute, fünf Jahre nach dem Ende seiner politischen Karriere, mit sich im Reinen. Er hat sich aktiv eingemischt, war 19 Jahre im Dresdner Stadtrat, zuletzt als Fraktionschef, und zehn Jahre als ausgewiesener Finanzfuchs der größten Oppositionspartei im Landtag schärfster Gegenspieler der jeweils amtierenden Finanzminister seither eine Fehlstelle im System. »Klar hat uns Modrow im Nachhinein vorgeworfen, dass wir als Genossen an diesem Tag nicht geschlossen da waren und lautstark gegen Kohl protestierten. Aber auch ihm war spätestens nach diesem Abend der künftige Hasenlauf klar - denn die SED befand sich schon seit Sommer '89 in rasanter Selbstauflösung.« Und er verweist auf die Besonderheit des folgenden Dresdner Weges. Nach Modrows Weggang nach Berlin und Berghofers konsequentem Rückzug traten im Bezirk alle führenden Funktionäre zurück, auch die zweite und dritte Reihe. In allen anderen Bezirken nur die erste. Christine Ostrowski, ebenso Mitglied der Initiativgruppe, wurde PDS-Stadtchefin und 1994 schärfste Herausforderin von Oberbürgermeister Herbert Wagner, der sich wie mehrere spätere Lautsprecher von der Kirche geschickt in die »Gruppe der 20« hatte kooptieren lassen und dann für die CDU zweimal die OB-Wahl gewann.
Andrej Krabbe und Heiko Dachsel fanden sich vor reichlich zwanzig Jahren wieder und gründeten gemeinsam die Neustädter Agentur Subdesign, in der Öffentlichkeit vor allem für den monatlichen »Kinokalender« und diverse Werbeträger in Szenekneipen auffällig. Beide sind dort Geschäftsführer.
Bernhard Theilmann kehrte schnell zum Faible Journalismus zurück, nachdem er 1974 seinen Presseausweis eigenhändig zum Sächsischen Tageblatt zurückbrachte, weil er nix mit der Stasi zu tun haben wollte, und kaperte flux eine frisch verlassene FDJ-'Villa mit drei funktionierenden Telefonen und einer Schreibmaschine. Gemeinsam mit den Stuhrbergs und weiteren positiv Verrückten produzierte er im Frühjahr 1990 eine Nullnummer der SAX, die im Frühjahr 2015 ihren 25. Printgeburtstag feiern wird.
Schon im Sommer lockten sie den Verleger des alternativen Vorbildstadtmagazines "Flex "von Hannover nach Dresden. Karl Nolle blieb und zog sogar für die SPD zweimal in den Landtag - sehr zum Leidwesen von zwei sächsischen Ministerpräsidenten. »Es war schon eine sehr politische Zeitschrift«, schmunzelt Theilmann heute über den arbeits- und ereignisreichen Übergang von der VL ins Medienwesen, »wir wollten unbedingt eine Gegenöffentlichkeit zum Mainstream schaffen.« Doch diese Blätterwende hat mit dem heißen Dampf um Kohl nichts zu tun und erfährt alsbald ebenso Würdigung. Die Freiheit, die sie alle brauchen, ist selbst errungen und immer wieder harte Arbeit. Oder, um es mit Kohl statt dem damals abwesenden Herrn Gauck zu sagen: »Und liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass die Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten - wenn wir es mit Vernunft und mit Augenmaß tun und mit Sinn für das Mögliche. Es ist ein schwieriger Weg, aber es ist ein guter Weg, es geht um unsere gemeinsame Zukunft.« Waidmanns Dank!
Andreas Hermann
■ Lesetipp: Markus Driftmann »Mythos Dresden: Symbolische Politik und deutsche Einheit" zum 19. Dezember 1989:
http://www.bpb.de/apuz/31986/mythos-dresden-symbolische-politik-und-deutsche-einheit?p=all