spiegel online, 20. August 2007, 11:28 Uhr, 27.06.2015
Freital in Sachsen - Die Geisterstadt der SPD
Reise- und Kulturführer über Sachsen gibt es viele. Freital bei Dresden wird man dort kaum finden. Denn die Stadt hat ihre Geschichte verloren - und damit auch ihren Stolz. Von Franz Walter
Freital ist eine vergängliche Industriestadt, als solche erst durch den Zusammenschluss von drei Arbeitergemeinden 1921 entstanden, besitzt weder berühmte Kathedralen noch schmucke mittelalterliche Häuserzeilen. Kein Vergleich mit Meißen etwa oder Görlitz. Freital - das bedeutete über Jahrzehnte lediglich Industrie, Fabriken, Schornstein, Rauch, Dreck, Gestank.
Anderseits aber: Hätten sich die von Volkskundlern, Historikern und Sozialwissenschaftlern seit den siebziger Jahren aufwendig geführten Diskussionen um einen erweiterten Kulturbegriff popularisiert, dann müsste Freital in Besichtigungsprogrammen der Sachsentouristen einen ähnlich prominenten Platz einnehmen wie, sagen wir, Auerbachs Keller in Leipzig, wie die Dombauten von Freiberg und Meißen, wie die Brühlschen Terrassen oder der Zwinger von Dresden. Denn über die DDR-Gesellschaft hinweg haben sich in Freital die Konturen des Industrialisierungsprozesses und die gesellschaftlichen Antworten darauf bemerkenswert erhalten.
Man kann in Freital wie in einem großen Museum die Industrie- und Arbeiterkultur des Wilhelminischen Reichs und der Weimarer Republik besichtigen. Der Raum Freital gehörte zu den fortgeschritten Pionierregionen einer hochdifferenzierten Industrieproduktion. Die Stadt selbst war Hochburg der Arbeiterbewegung, schließlich Renommierort sozialdemokratischer Kommunalpolitik, ja: Zentrum der sozialistischen Arbeiterkultur im Deutschen Reich bis 1933 überhaupt.
Tatsächlich war Freital in den Jahren der Weimarer Republik die Stadt sozialdemokratischer Superlative schlechthin. Sie war die einzige Stadt im roten - dadurch aber auch stark kommunistisch optierenden - Sachsen mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, mit absoluten Mehrheiten bei Wahlen. Nirgendwo sonst war die Zahl der Mitglieder proportional so groß wie hier, wo über 3000 der insgesamt 36.000 Einwohner das sozialdemokratische Parteibuch besaßen. Und schließlich war das ganze Tal nachgerade übersät von sozialistischen Arbeiterchören, Naturfreundegruppen, Arbeiter-Turner-Clubs, Arbeiter-Fußballvereinen und anderen Arbeiterfreizeitorganisationen mehr. Hier gingen die Arbeiterkinder zur sozialistischen Jugendweihe, nicht zur protestantischen Konfirmation.
Freital hatte in den 1920er Jahren den Ehrgeiz, zur Wohlfahrtsinsel im trüben kapitalistischen Gewässer der Weimarer Republik zu werden. Die Stadt zahlte infolgedessen Wohlfahrtssätze wie keine zweite Gemeinde im Deutschen Reich. Sie war eine wahrhafte Oase für die Verlorenen und Gestrandeten der Gesellschaft, für Arbeitslose, für ledige Mütter, für Kleinrentner - und vor allem für Kranke. Alles im Heil-, Fürsorge- und Wohlfahrtswesen war kommunalisiert und für die Nutzer kostenfrei, von der Geburtshilfe bis zur Totenbestattung. Für alles sorgte die sozialdemokratische Gemeinde. Und 1927 sandte gar der Genfer Völkerbund eine Delegation, die dieses Freitaler Experiment bestaunte.
Für die Nazis gab es nichts zu bestellen
Dazu kam eine ungewöhnlich expansive Wohnungspolitik. Die Sozialdemokraten bauten etliche Siedlungen - teils als Genossenschaftler, teils als städtische Bauherren. Man nannte Freital in der zweiten Hälfte der 20er Jahre "Rotes Wien in Sachsen" - in Anspielung an die modellhafte Bautätigkeit der sozialistischen Gemeindespitze in der österreichischen Hauptstadt. Und natürlich hatten die Sozialdemokraten in den Siedlungen fortan ihre Hochburgen, hatten hier ihre besonders treuen, loyalen, jederzeit mobilisierbaren Wähler.
Für die Nationalsozialisten war in Freital infolgedessen so gut wie nichts zu bestellen. An den Braunen ging das Rote in Freital auch zwischen 1933 und 1945 nicht zugrunde. Kaum waren die Nazis weg, schlossen sich erneut weit über 3000 Freitaler der SPD an. Und auch bei den für lange Jahrzehnte letzten halbwegs freien Wahlen im Osten, im Herbst 1946, votierten zwei Drittel der Freitaler Wähler für die frisch gegründete SED - es war das Spitzenergebnis für die Einheitssozialisten in Sachsen schlechthin.
Doch mit der SED begann die Tragödie von Freital und der Sozialdemokratie. Am Ende der SED-Herrschaft war von der sozialdemokratischen Tradition, war von der großen verwaltungssozialistischen Idee der Stadt buchstäblich nichts mehr übrig geblieben. Selbst die Erinnerungen daran waren zum Ende der achtziger Jahre komplett ausgelöscht.
Einen derartig fundamentalen politischen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung wie hier kann man in den modernen europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts wohl kein zweites Mal beobachten. Im Tal des Plauenschen Grundes mit dem Freitaler Zentrum hatten sich die meisten der dort lebenden Menschen über mehrere Jahrzehnte, vom Kaiserreich bis zur frühen SBZ, sämtliches Heil vom Sozialismus versprochen. Und als der Sozialismus dann in Gestalt der SED über sie real hereinbrach, reagierten sie bitter enttäuscht. Da gerade hier, in Freital, die Erwartungen auf die befreiende und erlösende Kraft des Sozialismus höher gesteckt waren als überall sonst in Deutschland, mussten daher hier auch die negativen Entwicklungen in den DDR-Jahren eine überproportional tiefe Frustration erzeugen.
Mit der Vergangenheit gebrochen
Bis 1933 war das Freizeitleben in Freital trotz sozialer Not und häufiger wirtschaftlicher Krisen noch lebendig, vielseitig und interessant gewesen. Die Stadt war seinerzeit in Bewegung. In den SED-Zeiten indes gestaltete sich das Leben nach der Arbeit in Freital fade, steril und ohne Reiz. Die Stadt wirkte öde, ja apathisch. Das üppige Freizeitangebot in Freital bis 1933 rechneten die Einwohner noch in der Trümmergesellschaft der Jahre 1945/46 den Sozialdemokraten an, prämierten das durch den neuerlichen Parteieintritt. Für den Niedergang der Stadtkultur machten die Freitaler indessen ebenfalls die Sozialisten verantwortlich, wandten sich daher verbittert von ihnen ab.
Schließlich waren auch die städtebaulichen Prunkstücke des sozialdemokratischen Gemeindesozialismus, die Siedlungen, in den 40 Jahren der DDR-Gesellschaft zerfallen. Es wurde damals nicht viel saniert, vor allem nicht im sächsischen Osten. Der Zustand der Siedlungen war symptomatisch für den Zustand der Stadt. Als dann 1989 die DDR implodierte, waren alle früheren sozialdemokratischen Einstellungen, Orientierungen, Kulturen aus dem Tal verschwunden. Die Stadt hat mit ihrer sozialdemokratischen Vergangenheit radikal gebrochen. Nicht einmal 10 Prozent der Freitaler mochten 1990 der neuen SPD ihre Stimme zu geben, keine 30 Personen traten ihr bei.
Heute ist Freital ist eine nahezu entstrukturierte Stadt. Die Vitalität der früheren sozialdemokratischen Kommune basierte auf ein weit ausgeworfenes Vereinsnetz der reformistischen Arbeiterbewegung, an dem über Jahrzehnte kontinuierlich gewoben wurde. Nicht davon durfte nach 1945 unter der kommunistischen Hegemonie reetabliert werden. Und das Selbstbewusstsein der Stadt Freital in den Weimarer Jahren resultierte aus der Reformidee des kommunalpolitischen Alternativprojekts, das den Ehrgeiz der Einwohner anstachelte und sie zu einer aktiven Bürgerschaft zusammenfügte.
Freitalist entkollektiviert
Im Jahr 2006 ist alles anders. Freital hat sich enthistorisiert und von der ursprünglichen Gemeindevision final abgekoppelt. Positiv ausgedrückt: Die Stadt ist ohne den Ballast von schweren Traditionen; sie ist nicht beladen durch überhängige Strukturen, sozialmoralische Fixierungen, tradierte Kollektivitäten. Freital hat sich in Folge der nivellierenden SED-Despotie und des anschließenden deregulierenden Neuliberalismus aller überlieferten Bindungen, Erinnerungen und Integrationsideologien vollständig entledigt. Die Freitaler Einwohnerschaft ist entkollektiviert. Also müsste Freital jetzt eigentlich wunderschön modern, lebendig, innovationsfreudig, tatendurstig, heiter gestimmt sein.
Aber eben so ist es bezeichnenderweise nicht. Freital ist mit dem Verlust der Geschichte, seiner Gründungsmission vielmehr der primären Integrationskern abhanden gekommen, welcher die Einwohner einst zur - roten - Bürgerschaft zusammenfügte. Und im neuem Vakuum entstand dann Raum für Kleinstadtpopulisten, die in Freital nach 1990 immer wieder periodisch jäh nach oben kamen, kühne Versprechungen machten, dann nach allerlei Pannen und Pleiten oft im Nichts verschwanden. Zurück blieb meist Misstrauen und Misanthropie. Stolz auf die Stadt ist kaum mehr zu finden. Der Ort hat sein originäres Projekt - ein weithin ausstrahlendes Tal der Freien zu schaffen - und dadurch sein exklusives Selbstbewusstsein verloren.
Nicht in allen Fällen also führt die Enttraditionalisierung und Dekomposition überlieferter Strukturen zu lustvollen Aufbrüchen und originärer Kreativitäten. Oft genug mündet die Deregulierung des Herkömmlichen allein in kulturelle Einebnung, in Entkernung je besonderer Identitäten. Gesellschaften büßen so an Authenzität ein, an Inseln des Eigensinns, auch des Experiments.