Frankfurter Rundschau Dokumentation, 21.07.2001
"Wie war ich? War ich gut?"
Über den Zynismus in der Politik und seine Auswirkungen auf die Demokratie / Von Ekkehart Krippendorf
Staatsanwaltschaften ermitteln gegen Politiker: In Frankreich, in Deutschland, in der Schweiz. Die Zahl der Untersuchungsausschüsse wächst in den westlichen Demokratien, die sich mit Geldwäsche, Bestechungsskandalen und Gesetzesbrüchen von Parteipolitikern beschäftigen. Welche Entwicklungen bahnen sich da eigentlich an? Mit beißender Kritik hat Ekkehart Krippendorf, emeritierter Politikwissenschaftler in Berlin, Beispiele und Reaktionen der Berufspolitiker in einem Essay für die FR-Serie „Januskopf der Moderne" zusammengetragen.
Die sprichwörtlichen Spatzen pfeifen es von den Dächern – und die politischen Kommentatoren sprechen es offen aus – dass die Berliner CDU den späteren Wahltermin erzwang, weil sie damit rechnet, ihr Löwenanteil an Korruption und Misswirtschaft in der Stadt werde bis dahin wenn schon nicht vergessen, so doch wenigstens in den Hintergrund des öffentlichen Interesses gedrängt sein; aber natürlich wird das, was jede/r Informierte weiß, von den Sprechern und Führern der Partei um keinen Preis offen zugegeben.
Demokratie ist eine Frage des guten Gedächtnisses, hatte Kurt Schumacher gemeint – wie wahr! Denn die Rechnung mit einem von den politischen Repräsentanten systematisch verdummten, entpolitisierten und darum vergesslichen Wähler, dem demokratischen Souverän, wird vermutlich aufgehen – sei es auch nur, indem ein katastrophaler Stimmverlust dieser im besonderen Maße verlogenen und heuchlerischen Fraktion der politischen Klasse wenigstens verhindert wird. "Verlogen" und "heuchlerisch" – das sind natürlich völlig unqualifizierte Begriffe, die den, der sie benutzt als politischen Analysten von vornherein intellektuell ins Abseits schieben.
Aber was anders als verlogen ist es denn, wenn die Spitzenkandidaten dieser Partei nach einigen harmlos-ohnmächtigen Eierwürfen wider besseres Wissen von Morddrohungen aus dem Sympathisantenumkreis von SPD und PDS à la Weimarer Republik raunen; wenn der brutale, aber von allen Staatsmännern des Westens seinerzeit tolerierte, vielleicht sogar klammheimlich begrüßte, weil die Politik des "Containment" ratifizierende Mauerbau von vor vierzig Jahren jetzt als Wahlkampfmunition gegen eine mögliche rotrote Mehrheitskoalition ins Feld geführt wird; wenn die gesamte gegenwärtige CDU-Führung, die bis weit hinunter in die mittlere Funktionärsschicht zumindest indirekt Profiteuse illegal beschaffter DM-Millionen ist (denn auch mit deren Hilfe hat sich diese Partei in die Macht wählen und so lange an der Macht hat halten können: die Gnade der späten Parteimitgliedschaft kann keine Merkel, kein Meyer und kein Merz für sich in Anspruch nehmen – vom Unverfrorensten aller Profiteure, Roland Koch, ganz abgesehen) und die jetzt so tut, als ginge sie das moralisch und politisch überhaupt nichts mehr an: ist dann das Wort "heuchlerisch" dafür nicht geradezu noch mildtätig? Dass die Konkurrenz-Fraktion SPD diese ungeheuerlichen Machenschaften mit so leiser Stimme kritisiert, legt den Verdacht nahe, sie habe ihr eigenes gerüttelt Maß an ähnlichen Operationen wenn auch geringeren Umfanges zu verbergen, dass man sich also stillschweigend geeinigt hat, das schmutzige Thema herunterzuspielen.
Diejenigen, die heute so lautstark und biedermännisch-selbstgerecht von der harmlos-altmodischen PDS verlangen, ihre SED-Vergangenheit aufzuarbeiten und sich für diese zu entschuldigen, erinnern sich selbst natürlich nicht im Traum daran, dass sie zur selben Zeit als junge politische Ehrgeizlinge in eine Partei eingetreten waren, von der sie wussten, wie diese sich – und ihnen – auch mit den Mitteln demagogischer Lüge und Volksverhetzung ("Ich bleibe dabei: die SPD ist der Untergang Deutschlands", Konrad Adenauer) die Macht und ihre Pfründen sicherte. Sie haben gelernt, dass es für eine politische Karriere darauf ankommt, um jeden Preis – vor allem um den der Wahrheit – öffentlichkeitswirksam Punkte zu machen, sich moralisch aufzublähen und rhetorisch lautstark in Szene zu setzen ("brutalst mögliche Aufklärung"), um sich dann nach abgeschalteten TV-Kameras von den Parteifreunden bestätigen zu lassen, wie man seine Rolle gespielt hat ("war ich gut?"). Denn das öffentliche Rollenspiel dient der demokratischen Machtabsicherung nach außen und unten – die eigentlichen politischen Geschäfte werden dann hinter verschlossenen Türen abgewickelt.
Das Problem liegt in der beklemmenden Tatsache, dass diese Leute damit durchkommen: Man wählt sie wieder – mit nur relativ geringfügigen Schwankungen in der Wählergunst (jedenfalls sofern die Menschen überhaupt noch zur Wahl gehen). Ja, mit der Fähigkeit, die eigenen Skandale mit Lächeln, Lügen und eisernen Nerven an sich abprallen zu lassen (Hamlet: "Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein"), hat man im Kalkül der Parteistrategen offensichtlich sogar den Qualifikationsnachweis für das Kanzleramt erbracht. In ihrer zynischen Verachtung der demokratischen Wähler- und Meinungsöffentlichkeit unterscheiden sich die verschiedenen Fraktionen der politischen Klasse und ihre prominenten Rollenspieler nur graduell voneinander. Und kann man denn anderes von ihnen erwarten, wenn dieses "Volk" so offensichtlich auf die primitivsten Werbetricks und Schlagworte, auf professionell produzierte Masken und Fassaden reagiert und nicht auf Argumente, Leistungen oder auf offensichtliches Versagen (von der Korruption ganz zu schweigen). Einer der ungebrochen aktuellen politischen Texte ist Wilhelm Reichs bittere "Rede an den kleinen Mann" (1948), in der er diesem wegen seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit unbarmherzig die Leviten liest.
Aber damit wird der Zynismus der demokratischen Machtstrategen natürlich nicht entschuldigt. Denn die politische Klasse "sollte" sich in der Tat anders verhalten, "müsste" höhere Ansprüche von Pflicht und Dienen an sich stellen, als vom "kleinen Mann" erwartet werden kann. Das politische Amt verlangt von denen, die "Politik als Beruf" gewählt haben, nicht nur die schweren Tugenden der Uneigennützigkeit und der persönlichen Bescheidenheit, sondern es verpflichtet auch zur ständigen Bildung, Information und Aufklärung des Auftraggebers, des Volkes, zur Offenlegung der großen Probleme des Gemeinwesens mit allen Grenzen, Risiken und Möglichkeiten politischen Handelns – und zwar in Permanenz und unabhängig von Wahlterminen perspektivisch über die kurzen vierjährigen Legislaturperioden hinaus.
Dass hingegen weder jene Tugenden noch die für das Gelingen der Demokratie, für die informierte Teilhabe an der politischen Meinungsbildung fundamentale Bildungsaufgabe als Qualifikationskriterien politischer Führung überhaupt eine Rolle spielen und die Durchschnittlichkeit der Repräsentanten auch noch gerechtfertigt wird mit dem beschämenden Argument, diese könnten schließlich auch nicht besser sein, als das Volk selbst, zeigt den fortgeschrittenen Grad der kollektiven Erkrankung des Politischen an. Als hätte Max Weber seine leidenschaftliche Rede über den Beruf des Politikers nie gehalten.
Der an den Sachen selbst vorbeigeführte Berliner Wahlkampf ist nicht nur peinlich provinziell, sondern paradigmatisch für die Reproduktionstechniken der politischen Klassen und ihrer Matadore überall dort, wo das "Ende der Geschichte" in Form demokratischer Verfassungsstaaten angekommen ist – von Indien über die USA bis nach Italien und Österreich, um nur die verstörendsten Fälle der jüngsten Zeit zu erinnern. Von den Herrschaftstechniken der unzähligen Diktatoren, Halbdiktaturen und schamlosen Kriegsherren in allen Teilen der Welt können wir dabei absehen: Von ihnen ist nichts Besseres zu erwarten, sie regieren nicht eigentlich zynisch, weil sie ihre Selbstbereicherungs- und Machtprojekte in der Regel offen und ohne falsche Prätentionen betreiben. Aber den engagierten Demokraten, denjenigen, die unbeirrt auf die Stimme des Volkes als Basis legitimer Regierung setzen, denen das Credo des größten und integersten aller demokratischen Politiker, Abraham Lincolns, heilig ist: "government of the people, by the people, for the people", denen verschlägt es die Stimme.
Buchstäblich die Stimme: Brecht hat uns daran erinnert, dass der Kampf gegen das Unrecht die Züge verzerrt – aber auch die Empörung über das, was uns die Herrschenden täglich an Frechheit und Lüge zumuten, macht die analytische Stimme grob und schrill und verleitet überdies dazu, die wenigen anständig-ehrlichen Professionellen der parlamentarischen und der Regierungsarbeit – es gibt sie in allen Parteien – undifferenziert zu übersehen. Politikwissenschaft und Journalismus stellen keine angemessenen Begriffe zur Verfügung, um die Wahrheit über den Verfall politischer Moral legal amtierender, demokratisch gewählter Regierungen und ihrer Klassen-Klientele angemessen zu erfassen – es sei denn sie verletzen die sprachlichen Spielregeln und nennen Gesetzesbrüche bei ihren Namen statt sie als "Verstrickungen" zu verharmlosen, identifizieren das Krebsgeschwür aus taktischer Lüge und sich selbst bedienender Privilegien-Arroganz, das die politischen Klassen der demokratischen Verfassungsstaaten befallen hat und sich anscheinend unaufhaltsam ausbreitet, und nennen dann auch die Schurken als Schurken beim Namen, denn die machtversessene, nicht nur objektiv sondern auch subjektiv korrupte politische Klasse mit ihrem "parvenümäßigen Bramarbasieren" und ihrer "eitlen Selbstbespiegelung" (Max Weber) hat, im Unterschied zur richtigen Mafia, Namen und Adresse.
Leo Tolstoi, einer der subtilsten Kenner der menschlichen Seele und der Gesellschaft – und um der Bewahrung des Menschlichen in der Politik willen pazifistischer Anarchist geworden – nannte Regierungen "Verschwörungen gegen das Volk". Solches überhaupt und dann noch verallgemeinernd auszusprechen, sieht man einem weltfremden Dichter u.U. nach – nicht aber dem Analytiker der Politik. Und gemessen wird dann mit zweierlei Maßstäben. Walter Ulbrichts Verschwörung gegen sein Volk, an einen Mauerbau gar nicht zu denken, gilt als Beweis für politischen Zynismus; die Verschwörung Konrad Adenauers gegen das westdeutsche Volk (und die eigene Regierung) zur Durchsetzung der lange Zeit öffentlich verleugneten Wiederbewaffnung gilt als Beweis politischer Raffinesse. Und was anderes als "Verschwörung" enthüllen denn die spiegelbildlichen Aktenvernichtungen von Stasi und Bundesregierung am jeweiligen Ende ihrer Herrschaft? Das schlechte Gewissen scheut das Tageslicht der Öffentlichkeit, die Wahrheit und das Volk – und natürlich auch die Geschichte. Die Täter verwischen ihre Spuren.
Niemand scheint die Legitimität einer 30- bis 50-jährigen Aktenverschlussfrist für Regierungsdokumente zu bestreiten: so lange nämlich, bis die trotz allem noch gefürchtete Öffentlichkeit keine Konsequenzen mehr aus der dokumentierten Praxis ihrer Regierenden ziehen kann. Erst wenn es zu spät ist, darf sie, durch eine verantwortliche und ausgewogene Geschichtswissenschaft gefiltert, erfahren, was zu wissen damals zur Entscheidungs- und Urteilsbildung über das Handeln der Staatsmänner (und -frauen) nützlich gewesen wäre: "Wenn wir das gewusst hätten . . ." Und da ja angeblich aus der Geschichte nichts gelernt wird, bleibt selbst ein solches spätes zeitgeschichtliches Wissen unfruchtbar – obwohl es doch zumindest ein prinzipielles Regierungsmisstrauen, einen Generalverdacht auf klassenpolitische Vorteilsnahme gegenüber den Motiven jeglicher gegenwärtig zum angeblichen Wohle der Allgemeinheit getroffener politischer Entscheidung rechtfertigen würde.
Von keinem Feld haben die Metastasen des Zynismus so durchgehend Besitz ergriffen, wie von der Außenpolitik. Seit Richelieu die Maxime begründete, dass die Feinde meines Feindes meine Freunde sind, gilt – mit einem Kern von Wahrheit – das populäre Vorurteil, dass Diplomatie gleich Lüge sei. Nirgends sonst werden tagtäglich die Menschenrechte als universelles Gut auf dem Altar ökonomischer und machtpolitischer Interessen so schamlos geopfert, wie in der Außenpolitik der Regierungen, mit der sie ihre "nationalen Interessen" flankieren. Die US-amerikanische Regierung, die das schlimmste massenmörderische Regime der Nachkriegszeit – die Roten Khmer – unterstützte, weil es von Nordvietnam bekämpft wurde, die eigenen Landsleute in lateinamerikanischen Diktaturen von amerikanisch ausgebildeten und bezahlten Folterknechten ermorden ließ, weil deren politische Auftraggeber amerikanische Interessen vor dem ausgebeuteten Volk zu schützen hatten: Die Liste dieser systematisch-zynischen Verbrechen realistischer Außenpolitik (für die inzwischen der Name Henry Kissinger an oberster Stelle steht) ist ebenso lang wie dem herrschenden Zeitgeschichtsbewusstsein unbekannt – sie wird historisch nur erinnert von einigen zur Randständigkeit verurteilten Kritikern. Auch auf diesem Felde gilt die von Kurt Schumacher erkannte Wahrheit, dass eine die Menschenrechte einklagende Außenpolitik eine Frage des guten Gedächtnisses angesichts ihrer kontinuierlichen Verletzungen durch vorgebliche Demokraten und Demokratien ist.
Aber jeder durchschnittliche Zeitungsleser durchschaut die Mechanismen dort, wo sie zutage treten. Man nehme nur den ganzen Komplex "Kosovo" und wird das populäre Vorurteil mehr als bestätigt finden – vor allem aber wiederum den Zynismus, mit dem alle Protagonisten ihre jeweiligen Völker, und die Regierungen die ihnen anvertrauten Menschen behandeln. Außenminister Fischers rhetorische Leistung, alle moralischen und völkerrechtlichen Bedenken mit dem wider besseres historisches Wissen pathetisch vorgetragenen Auschwitz-Vergleich in den kritischen Tagen der Interventionsentscheidung (die aus ganz anderen Gründen von der USRegierung längst gefällt war) zum Schweigen gebracht zu haben – was ihn endgültig zum anerkannten Staatsmann qualifizierte – gehört ebenso ins Bild wie Verteidigungsminister Scharpings ominöser Hufeisenplan, mit dem er um eine prekäre Situation zu retten, taktische Punkte machen konnte. Geschworen haben diese Minister, "Schaden vom deutschen Volke abzuwenden" – da aber ihr Leitmotiv Machtgewinn und Machterhalt ist, wird daraus die Abwendung von Schaden von der eigenen Partei oder der Regierung, der man angehört: Dafür werden sie von den Kollegen anschließend gelobt ("das hast du gut hingekriegt") und belohnt.
Zynismus-paradigmatisch ist im Falle des Kosovo-Krieges der Umgang aller Außen- und Sicherheitspolitiker mit der uran-angereicherten Nato-Munition. Niemand – außer den amerikanischen Soldaten – wurde vor den mit ihrer Verwendung verbundenen Gefahren geschützt, niemand gewarnt, niemand informiert. "Außer den amerikanischen Soldaten" heißt: Diese waren vorsorglich in einem eigenen Militärlager stationiert worden, wo sie nicht mit kontaminierten Objekten in Berührung kamen – weshalb sie auch, im Unterschied zu den Italienern etwa, keinen Fall von Leukämie zu beklagen hatten – eine Studie über die Folgen der Verwendung dieser Munition im Golfkrieg hatte nämlich inzwischen die lebensgefährliche Verstrahlung erwiesen (dass bis zu 35 000 irakische Kinder noch daran sterben werden, was eine kanadische Studie ergab, ist den Herren dieser Politik nicht einmal eine Fußnote wert). Der deutsche Verteidigungsminister aber sah es offensichtlich nicht als seine Aufgabe an, Menschenleben – die der unbeteiligten Zivilisten, aber auch die seiner eigenen Untergebenen, der Soldaten – zu schützen, sondern Bündnistreue zu demonstrieren, indem er sich dumm stellte (es sei ihm nicht bekannt, ob diese Munition tatsächlich eingesetzt werde; dass ihre Anwendung ohnehin gegen die auch von der Bundesrepublik unterzeichnete Genfer Konvention verstößt, interessierte ihn dabei nicht einmal). Joschka Fischer, noch forscher, erklärte damals schlicht, es sei davon auszugehen, dass Gefährdungen gar nicht aufträten. Ob nun bewusste Lüge oder nicht: Staats- bzw. Bündnisraison rangiert nicht nur vor der Wahrheit, sondern auch vor den Menschen. Die Nato hat sich bis heute systematisch geweigert, die Orte und Ziele anzugeben, auf die sie die strahlende Munition verschossen hat (so dass die Bevölkerung, aber auch die im Kosovo stationierten KFOR-Soldaten sich dagegen schützen können). Ihre Militärbürokraten scheuen das Licht der Wahrheit genauso wie die deutschen Aktenvernichter. Darf man da nicht von einer Verschwörung gegen die Völker sprechen, nachdem deren "Recht" zuvor von ihren Diplomaten ohnehin bekanntlich ohne Skrupel ignoriert und mit Füßen getreten worden war?
Wir haben keine – oder eben nur eine unangemessen hysterisch klingende – Sprache und Begrifflichkeit, um die tägliche Beleidigung der politischen Vernunft beim Namen zu nennen. Eine "Kritik der Außenpolitik" ist gefragt, die zumindest den argumentativen Versuch machen müsste, aus der zynischen Logik der Unvernunft auszusteigen und dies als die taktische Aufgabe jeweiliger nationaler Politik zu formulieren – mit dem strategischen Ziel eines friedlichen Europas, das nicht zur schlechten Kopie der US-amerikanischen Großmacht wird. Das antimilitaristisch-pazifistische Wählerpotenzial der Grünen war ja einst ein Hoffnungsschritt auf diesem Wege gewesen, bis es ausgerechnet auch noch von einem der Ihren selbst für die dreißig Silberlinge einer staatsmännischen Karriere buchstäblich verraten wurde.
In letzter Instanz ist es die schleichende Infektion der politischen Eliten in den demokratischen Gesellschaften durch den Virus des Stalinismus, die einen der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis – und zu einer möglichen Therapie – der Krankheit des Politischen abgibt. Wie das? Nun, der Stalinismus ist schließlich nicht vom Himmel gefallen oder in den Steppen Asiens oder einer georgischen Klosterschule entstanden – er ist vielmehr Fleisch vom Fleische der europäischen politischen Gesellschaften und hat seinen einfachen Kern in der schlichten Maxime, dass der (gute) strategische Zweck die (schlechten) taktischen Mittel rechtfertige. Dieses verhängnisvoll-verführerische Axiom haben Millionen Menschen jahrezehntelang nicht nur als vermeintliches Wesen auch und vor allem der Politik akzeptiert und durchkonjugiert, ihr haben hunderttausende Idealisten oft sich selbst, kollektiv ihre politische Vernunft, persönlich ihre Menschlichkeit und intellektuell ihr eigenes Urteilsvermögen zum Opfer gebracht. Sie haben aber damit nur eine Lehre zur idealistisch verstandenen Strategie erhoben, mit der jene Straßen und Marktplätze längst gepflastert waren, auf denen die politischen Klassen Europas sich die Zustimmung der "Massen" zu ihrem jetzt nationalstaatlich verfassten Machtgewinn und Machterhalt gesichert hatten. Der Horror des reinen Stalinismus ist zwar gebrochen – aber wir sind gleichwohl weit davon entfernt, ja, wir entfernen uns derzeit immer weiter von der zu erinnernden Einsicht, dass das Projekt Demokratie in der bewussten Umkehrung eben dieser verhängnisvollen Maxime besteht: Um es mit Kant zu sagen, dass der Mensch "niemals bloß Mittel, sondern Zweck an sich selbst und allein von absolutem Wert ist", dass darum für demokratische Politik die Mittel zur Verwirklichung von Selbstbestimmung und Freiheit der eigentliche Zweck des Handelns sind, dass es auf die Methoden, und nur auf die Methoden ankommt, dass der Weg das Ziel ist.
In der Pragmatik realpolitisch erfolgreicher Berufspolitiker (und es gibt heute fast nur noch solche) ist der Zynismus, dessen historisch extremste Form der Stalinismus war, strukturell angelegt – angefangen damit, dass sie den unaufgeklärten, vergesslichen, primitiven, ja dummen Wähler "realistisch" voraussetzen und ihn als zutiefst verachtetes Mittel in die Berechnung ihrer Machtchancen einkalkulieren. Die Geschichte erfolgreicher idealischer politischer Bewegungen ließe sich auch schreiben als eine sich ständig wiederholende Geschichte ihrer Transformation in den Zynismus des realpolitischen Kalküls.
Aber daraus folgt für die politische Vernunft nun keineswegs ihr resignierter Verzicht auf den Motor ideeller Energien und stattdessen der direkte Einstieg in das zynisch-rationale Machtkalkül. Im Gegenteil: Die politische Vernunft muss mit normativen Ansprüchen des Idealen auftreten – oder sie ist überhaupt keine politische Vernunft, sondern inhaltsleeres Machtstreben (so, wenn beispielsweise die Opposition schlicht und ehrlich erklärt, ihr Hauptziel sei es, die Regierungspartei abzulösen – einfach so. Die Gründe für das Warum sind nachgeordnet.). Politische Philosophie, Wissenschaft und Publizistik müssen immer wieder darauf bestehen, statt die Machtkämpfe der politischen Klasse mit ausgewogen-distanzierter Haltung zu analysieren und zu kommentieren, deren strukturellen Zynismus ständig und kompromisslos mit den Normen aufklärerischer Pflichterfüllung zu konfrontieren.
Die Arbeit der politischen Vernunft ist die des Sisyphos: Sie findet ihre frustrierende Erfüllung im mühsamen Aufwärts-Rollen des großen Steines – und sie wird zynisch und selbstzerstörerisch erst dann, wenn sie diese Anstrengung aufgibt und sich in die Ebene begibt. In demokratischen Gesellschaften ist idealiter jeder sein eigener Sisyphos. "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." (Camus)