Berliner Zeitung, Seite 03, 05.02.2002
Bitte geh` nicht fort - Kurt Biedenkopf hat gesagt, dass er abtritt.
Seither trauert der Sachse. Ansichten aus den späten Tagen einer Ära
DRESDEN, im Februar. Sie hatten einen Ausflug nach Pillnitz gemacht, schön besichtigen, schön Mittag essen. Jetzt ist es nachmittags um drei in Dresden, die Sonne scheint und sie haben Torte bestellt. Frau Hollbach hat ein Stück Rosenkavaliertorte genommen, Frau Kaiser Beeren-Sahne. Dazu gibt es Kaffee. Ein Schälchen Heeßen, wie der Sachse sagt.
Die Damen sind 75. Der Tag riecht nach Frühlingserwachen, und Frau Hollbach hat die besten Sachen aus dem Schrank geholt. Einen eleganten Hut. Ein schönes Kleid. Golduhr, Goldarmband, Goldkette. So sitzt sie an den großen Fenstern im "Luisenhof". Es ist ein traditionsreiches Restaurant, auch Balkon Dresdens genannt. Balkon Dresdens, so ist es.
"Schauen Sie nur mal", sagt Frau Kaiser, "da unten die Elbwiesen, der Fluss, das Blaue Wunder." Ja, da unten liegt das alles, und weiter hinten leuchten die Türme der Residenzstadt. Es ist schön hier. Aus den Lautsprechern rieselt gutbürgerliche Musik. Frau Hollbach und Frau Kaiser aus Sachsen machen sich einen guten Tag. Wenn das ihre Männer noch erleben könnten. Was aus Dresden geworden ist, aus Sachsen. "Ich will Ihnen mal was sagen", sagt Frau Hollbach, "wenn das nicht anders gekommen wäre, mit der Wende und mit Herrn Biedenkopf, dann würde es hier viel, viel schlimmer aussehen. Wenn der Herr Kohl gesagt hat, das werden hier blühende Landschaften, dann hatte er natürlich Recht. Und bei uns hat Herr Biedenkopf einen großen Anteil."
Herr Biedenkopf, Dresden, Sachsen. Lange Zeit war das etwas wie die heilige Dreifaltigkeit. Aber schleichend mischten sich andere Dinge hinein. Begriffe wie Dienstbotenaffäre, Mietnachzahlung, Rabatt. Der Ministerpräsident Sachsens geriet ins Zwielicht und im April tritt er nun beleidigt zurück. Geht weg aus Sachsen, nach fast zwölf Jahren. Der Vater verlässt für immer das Haus. Das scheint das Schlimmste zu sein.
Frau Hollbach hat von Beginn an gewusst, dass es mit Herrn Biedenkopf wunderbar wird. "Er hat ja damals schon Vorlesungen in Leipzig gehalten. Ich habe ihm seine großen Leistungen hier zugetraut. Nur seine Frau, die war mir nie so recht sympathisch."
"Sie hat die Bolzen gedreht und er hat sie abgeschossen." Das sagt der Volksmund, sagt Frau Kaiser.
"Nein, er hat das InfineonWerk hier geschaffen, Siemens und Volkswagen. Und das sind nur die großen Sachen", antwortet Frau Hollbach.
"Aber Biedenkopf soll Dienstboten auf Kosten des Landes beschäftigt haben. Zuletzt feilschte er bei Ikea um Rabatt."
"Das machen doch alle so", sagt abschließend Frau Kaiser. "Ich will das auch gar nicht wissen."
So ist es wohl. Die Sachsen wollen es nicht wissen. Biedenkopfs Umfragewerte sind gesunken. Es muss also Leute geben, die sich von ihm abgewendet haben. Sie sind nicht leicht zu finden.
Vom "Luisenhof" ist es nicht weit bis zu Rolf Langnickel. Man fährt die Schillerstraße hinunter, über die Elbe und dann gleich links ein Stück am Fluss entlang nach Laubegast. Dort hat Langnickel ein schönes Grundstück. Elbwiesen davor und auf der anderen Flussseite die Wachwitzer Hänge. Er ist selbstständiger Dachdecker, sein Großvater hat das Geschäft 1912 gegründet, aber womöglich muss Langnickel noch in der Ära Biedenkopf den Laden schließen. Er sitzt auf unbezahlten Rechnungen, achthunderttausend Mark wert. "Das Geld werde ich nicht mehr sehen", sagt er. Und da ist keiner in Sachsen, der ihm helfen wird. So könnte dies eine Zeit der Abrechnung sein. Aber Langnickel rechnet nur mit Biedenkopfs Gegnern ab. Sie haben die Geschichten hervorgekramt. Über das Gästehaus der Landesregierung, in dem Biedenkopf für auffallend wenig Miete wohnte. Über die Begünstigung eines persönlichen Freundes beim Bau eines großen Büro-Komplexes in Leipzig-Paunsdorf. Ikea.
"Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen", sagt Rolf Langnickel. "Damit soll der Name Biedenkopf kaputtgemacht werden. Das ist nur der Nolle. Der gehört erschossen, das sage ich ganz offen. Der wohnt gar nicht weit weg, ich könnte den von hier aus erschießen." Der SPD-Landtagsabgeordnete
Karl Nolle hatte einige der Vorwürfe gegenüber Kurt Biedenkopf an die Öffentlichkeit gebracht.
Langnickel dreht sich zur Seite. Eigentlich will er nicht reden, hatte er gesagt. Aber eigentlich will er doch. Es arbeitet in ihm. Die Schulden, der Ministerpräsident, die Zukunft. Es ist ein großes, schweres Knäuel. Manchmal lacht der Dachdecker, aber irgendwie hilflos. Stochert mit den Schuhspitzen in Schneeresten. Dreht sich zurück und redet weiter. "Und wenn an den Sachen auch was dran wäre, Hauptsache ist doch, er hat was gemacht. Steht doch was da. Man kann’s doch sehen."
"Fürchten Sie, dass die Dinge hier jetzt ins Stocken geraten?"
"Das geht alles in die Asche. Hier fehlt eine harte Hand. Wir brauchen eine harte Hand, sonst wird nichts."
Der Satz verträgt eine Pause. Man kann ihn mal klingen lassen. Er lässt Raum für Assoziationen. Den Kurt Biedenkopf in seinem Lauf hält weder Ochs’ noch Esel auf. So ungefähr klingt er. Vor zwei Jahren hätte Hans Säuberlich noch eingestimmt. Er ist Geschäftsführer des Landesverbandes des Sächsischen Groß-und Außenhandels. Ein Lobbyist mit DDR-Vergangenheit. "Zentralistisch erzogen und demokratisch angelernt", wie er sagt. Vor zwei Jahren glaubte Säuberlich auch noch, dass Sachsen nichts Besseres widerfahren konnte als ein Mann, der sagt, wo es lang geht.
"Früher", sagt Hans Säuberlich, "früher hätten wir Biedenkopf in Dresden ein Denkmal gleich neben den Goldenen Reiter stellen können. Ein bisschen kleiner vielleicht, aber direkt daneben." Der Goldene Reiter ist August der Starke hoch zu Ross. "Wir wollten in fester Hand sein, aber nun ist zu sehen, dass es die Hand einer egozentrischen Persönlichkeit war. Aus Fortschritt ist hier Rückschritt geworden. Der Mann hat sich in seinen eigenen Dogmen festgefahren."
Hans Säuberlich ist abgefallen von Kurt Biedenkopf. Vielleicht sind es solche Leute, die die Umfragewerte des Ministerpräsidenten nach unten ziehen. Politisch denkende Menschen, Intellektuelle. Was darüber hinaus geschieht, ist abends im Dresdner Kabarett "Herkuleskeule" zu betrachten.
Das Programm heißt "Café Sachsen". Es gibt eine Nummer, die in der Regel den meisten Beifall bekommt, aber damit ist es bald vorbei. Biedenkopf tritt ab, und die Kabarettistin kann nur noch bis April nach einem Chanson von Jacques Brel "Geh nicht fort von mir" singen. Es geht um Kurt, die Miete, ein bisschen Korruption: "Halte Kurs, mein Kort, bitte geh’ nicht fort. Komm’, mach’ nicht schlapp, komm’, du kriegst Rabatt."
An dieser Stelle lachen die Sachsen am lautesten. Nicht hämisch, es ist ein gutes Lachen. Voller Nachsicht, vielleicht sogar Anerkennung. Als würden sich alle zuzwinkern. Unser Kurt, der hat’s faustdick hinter den Ohren. In dieser Art. Das Publikum ist nicht anders als der Dachdecker Rolf Langnickel. "An dem Rabatt da in der Brettlbude bei Ikea", hatte er anerkennend gesagt, "daran merkt man doch, dass der Mann was rauszuholen versteht."
Der Rabatt regt in Dresden kaum jemanden auf, in gewisser Weise auch nicht Heinz Eggert, ehemaliger Innenminister Sachsens, aktiver CDU-Landtagsabgeordneter. "Die Ikea-Sache wäre zu vernachlässigen", sagt er, "wenn all die Dinge vorher nicht gewesen wären und wenn Ingrid Biedenkopf schon vor zehn Jahren begriffen hätte, dass sie nicht der Regierung angehört."
Eggert sieht nicht aus wie der typische Landtagsabgeordnete. Er trägt Jeans und schwarzen Rolli mit Reißverschluss. Er redet kurz und entschlossen. Ein großer, drahtiger Mann, der Spähtrupps befehligen könnte. Er war lange Pfarrer, und wahrscheinlich hatte man in seinem Sprengel nicht Gott zu fürchten, sondern seinen Diener. Bezüglich des Ministerpräsidenten hört er jetzt immer dasselbe. Ein paar Dinge hätte der sich ja möglicherweise geleistet, aber dafür habe er etwas auf die Beine gestellt. Die Sachsen gingen sehr milde mit ihm um. "Sie vergessen nicht", sagt er, "dass Biedenkopf sehr viel für ihr Selbstbewusstsein getan hat. Er hat sie vor den herabsetzenden Einschätzungen des Westens in Schutz genommen, wonach man im Osten erst mal arbeiten lernen müsse. Er hat sie nicht gedemütigt und nicht ihre Lebensleistung in Frage gestellt."
Im schönen Palais des sächsischen Landadels residiert heute Matthias Griebel. Er ist gewesener Hilfsarbeiter, gewesener Kabarettist, Dresdner Unikum mit Backenbart und Direktor des Stadtmuseums kurz vor der Rente. Auch Griebel wundert sich nicht über die Nachsicht der Sachsen gegenüber den Affären Biedenkopfs. Er ist nicht in der CDU, aber Sachse von Geblüt. "Kurt Biedenkopf hat das sächsische Bewusstsein wieder formuliert", sagt er, "er hat es uns wieder sichtbar gemacht, und diese große Leistung wird lange nachwirken. Noch eins vergessen wir hier nicht. Vor der Wahl von 1990 hatte er gesagt, wenn ich nicht gewinne, bleibe ich trotzdem und mache mit. Auch dieser Satz wirkt heute nach."
1945 war Dresden tot. Der Stolz Sachsens war zertrümmert. Die Stadt steht wieder, aufgebaut in der DDR und ausgeschmückt in der Ära Biedenkopf. In Griebels Büro hängt ein altes, großes Gemälde. Er stellt sich davor und geht mit dem Zeigefinger über die Silhouette. "Hier, der sächsische Kunstverein, steht wieder, die Frauenkirche, kommt wieder, das alte Parlament, ist wieder da, Kreuzkirche, wieder da, Annenkirche, wieder in Ordnung, Semperoper, selbstverständlich, das Schloss, ist in Arbeit."
"Steht doch was da, man kann’s doch sehen", hatte der Dachdecker Langnickel gesagt.
Viel ist in den letzten zwölf Jahren angefangen oder beendet worden. Die Sachsen lieben ihre Residenzstadt mit einer gewissen Verklärung. Als das Taschenberg-Palais wieder stand, kamen in den sieben Tagen der offenen Tür zweihunderttausend Menschen. Als das Landtagsgebäude eröffnet wurde, sind Tausende bei minus 15 Grad zur Besichtigung erschienen. Es war nur ein Neubau. "Wenn im Mai dieses Jahres an der Frauenkirche die Gerüste fallen", sagt Matthias Griebel, "dann schreit das ganze Elbtal."
Es ist nicht nur Volkswagen. Dresden glänzt wieder. Kurt Biedenkopf war da. "Die Sachsen verstehen das Ganze als große, gemeinsame Arbeit", sagt der Museumsdirektor. Wenn sie Dresden bestaunen, bestaunen sie sich selbst.
So wundert man sich irgendwann über gar nichts mehr. Arbeitsamt, Budapester Straße. Angelika Oswald, Sekretärin, 48, kommt aus der Tür. Sie hatte nach Stellenangeboten gefragt. Sie ist schon lange arbeitslos. Gerade ging sie im Foyer des Amtes an einer großen, blauen Holzskulptur vorbei. Man könnte daran hochklettern, vielleicht heißt sie deshalb "Aufwärts". Ihre Bedeutung wird in einem Zettel an der Wand erklärt. Danach symbolisiert sie "die Möglichkeit, seinen eigenen Weg gehen zu können, seine eigene Leiter anzusetzen, um seine Vorstellungen realisieren zu können - mit dem Vertrauen in sich selbst und in die Hilfe anderer".
Mit der Hilfe anderer hat es für Frau Oswald auch dieses Mal nicht geklappt. Sie könnte verbittert sein. Sie könnte wütend sein auf Ministerpräsidenten, die bei vierhunderttausend Mark Jahresgehalt fünfzehn Prozent Rabatt bei Ikea verlangen und Dienstboten vom Land bezahlen lassen.
"Wir können glücklich sein", sagt sie, "dass Herr Biedenkopf gerade nach Sachsen gekommen ist. Die Vorwürfe finde ich unter Niveau, wer versucht denn nicht, irgendwo etwas für sich herauszuholen. Der Herr Biedenkopf tritt ja nun bald zurück. Aber wer soll es denn machen?" Sie weiß keinen anderen, schon gar keinen Besseren.
So steht die Frage, was aus Sachsen wird. Alles war gut, aber nun beendet der Herr Ministerpräsident seine Tätigkeit. Irgendwas ist schief gelaufen. Trost gibt es nur in der "Herkuleskeule". In "Café Sachsen" wird an Johann Friedrich Böttger erinnert, der für August den Starken Gold machen sollte. Auch das lief aus dem Ruder. "Aber wenn bei uns etwas schief geht, sie wissen ja", sagte der Kabarettist, "dann wird es immer noch Meißner Porzellan."
(von Wolfgang Kohrt)