Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 05.03.1998
Gerhard Schröders Juso Zeit: Bürgerschreck, laß nach!
Von der Sebstorganisation zum aktivierenden Staat
Einige Kontinuitäten im Politikverständnis des Gerhard Schröder Opportunist, sagen die einen. Mann ohne Überzeugung, die andern. Auf ihn sei nur insofern Verlaß, als daß man sich eben nicht auf ihn verlassen könne, maulen die Kritiker in der Partei. Ein skrupelloser Machtmensch also, dieser Schröder, der seine Auffassungen wechselt wie seine Krawatten. Gern wird dann auch das Bild gezeigt, das den Juso-Vorsitzenden Gerhard Schröder 1978 zeigt: Das Haar ungebändigt, der Rollkragenpullover etwas liederlich, die Bierflasche am Mund. Schnitt, derselbe Mann, 20 Jahre später: das Siegerlächeln festgefroren, der Anzug gedeckt, die Havanna lang.
Einmal abgesehen davon, daß längere Havannas besser schmecken als kurze, scheinen die Bilder deutlich Aufschluß über einen radikalen Wandel zu geben: Vom linken "Bürgerschreck" zum "Automann" So einer hat kein Programm, außer dem, etwas werden zu wollen, Bundeskanzler diesfalls. Dafür wird ein Ex-Linker, jammern die Jusos von heute, schon mal ein "Genosse" der "Bosse".
Es ist gar nicht so leicht, dagegen etwas einzuwenden, und Gerhard Schröder gibt sich auch nicht so schrecklich viel Mühe damit. Daß er die Macht will, hat er immer gesagt, und sogar, daß ihm Politiker verdächtig sind, die vorgeben, die Macht nicht zu wollen. Schließlich sei das der Job eines Politikers, mit Macht etwas durchzusetzen, wie es der Job des Wählers sei, den Machthabenden dabei auf die Finger zu sehen. Und tatsächlich gibt es auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeit zwischen dem Gerhard Schröder, der einst einer der erbittersten Streiter für Rechtsstaatlichkeit und Liberalität in der Innenpolitik war, und dem Kanzlerkandidaten, der straffällig gewordene Ausländer möglichst schnell abschieben will und den "großen Lauschangriff" für vernünftig hält. Schröder selbst sieht auf Nachfrage die Kontinuitäten zwischen seiner Juso-Zeit und seinen heutigen Ansichten allenfalls in der "Konsequenz des Auftretens".
Es könnte aber auch sein, daß man sich in Zeiten der Globalisierung gar nicht so weit von "links" wegbewegt haben muß, um heute von den "Linken" als "Rechter" lokalisiert zu werden. Zur Verdeutlichung wäre es nützlich, einen Blick auf das zu werfen, was Schröder noch am Abend der Niedersachsenwahl als die Eckpfeiler seines Programms ausgegeben hat, sowie auf seine Vergangenheit als Exponent des "antirevisionistischen" Flügels bei den Jusos.
Zwischen Staat und Stamokap Die "Anti-Revisionisten", auch "Hannoveraner" genannt, waren in den siebziger Jahren eine der drei relevanten Strömungen in der Jugendorganisation der SPD. Sie schlugen und vertrugen sich mit den
"Reformisten" und den Vertretern des "Stamokap". Von letzteren wissen wir, daß sie ein recht krudes Verständnis der Leninschen Theorie vom "Staatsmonopolistischen Kapitalismus" pflegten, der Vorstellung also, daß im Zeitalter des "Finanzkapitals" der Staat zur selbst handelnden Agentur des monopolisierten Kapitals geworden sei. Für die "Stamokap"-Jusos, die sich ideologisch nicht so schrecklich unterschieden von DKP und SED - denen sie, der Wahrheit die Ehre, ein unbedingtes Bekenntnis zur Freiheit und Bürgerrechten entgegensetzten -, ging es im Prinzip nur darum, den Staat zu "erobern", um damit den Kapitalismus gleich selbst abzuschaffen. Bekanntermaßen endete das Experiment mit der Wahl Klaus-Uwe Benneters zum Juso-Vorsitzenden. Dessen unbedachte Äußerungen über angestrebte Bündnisse mit den Kommunisten hatten seinen Parteiausschluß zur Folge, was Gerhard Schröder den Weg freimachte.
Den "Reformisten" war daran gelegen, den Staat zu verändern, um das Los der arbeitenden Klassen zu lindern. Sie glaubten selbst zu Zeiten Helmut Schmidts noch daran, daß eine regierende SPD, hinreichend guten Willen vorausgesetzt, eine neue, bessere Gesellschaftsordnung heraufführen könne. Beiden Fraktionen, "Reformisten" wie "Stamokap", war gemein, daß im Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Begehrlichkeiten der Staat stand. Genau dies bestritten die "Anti-Revisionisten", eine im SPD-Bezirk Hannover entstandene Gruppierung, die über mindestens drei herausragende Persönlichkeiten verfügte: Helmut Korte als eminenten Theoretiker,
Karl Nolle als den Produktionsmitteln naher Drucker und Aktivist, schließlich Gerhard Schröder als raffinierten Taktiker.
Die "Anti-Revisionisten" machten sich über den Staat keine Illusionen, galt er ihnen doch weder als imperialistisches Ungeheuer noch als ein zu reformierender Wohltäter. In ihrer Gesellschaftskritik kam es ihnen auf das "Kapitalverhältnis" an. Diese Jusos verfochten das Prinzip von "Selbstorganisation" und "Selbstmobilisierung". Ihnen war es vor allem darum zu tun, die unterprivilegierten Klassen entlang ihrer Interessen zu organisieren. Auch daraus wurde bekanntlich nicht viel. Doch während "Reformisten" und "Stamokap" auf ihre Weise nach dem Kanzleramt schielten, fochten die "Anti-Revisionisten" für die Errichtung von Jugendzentren, in denen das junge Proletariat schon mal üben konnte, sich selbst zu artikulieren.
Von diesem Staats- und Politikverständnis ist der Weg gar nicht so furchtbar weit zu dem, was Gerhard Schröder heute den "aktivierenden Staat" nennt: den Staat nämlich, der Innovationen und wirtschaftliches Handeln nicht behindert, sondern ermöglicht und unterstützt. "Wenn einer freiwillig, ohne das Verschulden Dritter, erklärt, er möchte unter den Brücken schlafen, dann muß er das dürfen", hat Schröder schon in der Zeit, da er noch als "Linker" galt, zu Protokoll gegeben und damit jeglichen "Verantwortungsimperialismus" der Politik zurückgewiesen. Die Gesellschaft müsse ihre Konflikte selber regeln, die Parteien seien allenfalls dazu da, Meinungen zur Geltung zu bringen und zu bündeln. Der Staat hat in diesem Weltbild, damals wie heute, den Menschen nur zu helfen, sich zu aktivieren. Ziehen wir die Klassenkampf-Rhetorik der siebziger Jahre ab, ist es durchaus konsequent, heute einen 'modernen' Staat zu fordern, der es Arbeitnehmern wie Kapitalisten einfacher macht, ein Dasein zu gegenseitigem Nutz und Frommen zu organisieren. Dementsprechend war es aus Schröders Sicht konsequent, die Energiepolitik nicht über neue Gesetze zu gestalten, sondern durch ein - vorerst gescheitertes - "Energie-Konsens-Gespräch" zwischen Industrie und Bürgern.
In der Hannoverschen Staatskanzlei erzählt man dieser Tage gern die Anekdote vom Schulgarten und dem verstorbenen Hausmeister. Da hatte ein Pedell sich jahrelang rührend darum gekümmert, in einer Schule die Botanik so zu pflegen, daß die Kinder mit viel Spaß Biologie lernten. Als der Hausmeister starb, konnte seine Stelle aus Ersparnisgründen nicht wieder besetzt werden; also machten sich die Eltern erbötig, den schönen Garten in Eigeninitiative weiterzuführen. Die Schulbehörde war gar nicht abgeneigt, mußte das Ansinnen dann aber doch abschlägig bescheiden, weil die Eltern nicht dem Versicherungsschutz unterlagen - "die Versicherung hätte zwar im Schadensfall bezahlt, aber dann das Land verklagt..."
Mag sein, daß man als alter "Anti-Revisionist" heute Bundeskanzler werden muß, um solchen Unfug zu vermeiden.
(REINHARD HESSE)